Kalbeck, (Julius) Max (Heinrich) (Pseud. Jeremias Deutlich)

* 4.1.1850 Breslau/Schlesien (Wrocław/Polen), † 4.5.1921 Wien/A. Musikschriftsteller, Lyriker, Dramatiker, Librettist und Übersetzer.

Früher Geigen- und Gesangunterricht; schon als Mittelschüler Verfasser von Gedichten, erster Lyrikband – auf Empfehlung Karl von Holteis – 1870 erschienen. Ein auf Anraten des aufmerksam gewordenen Paul Heyse in München fortgesetztes Studium der Rechtswissenschaften brach er ab, wurde Mitglied der dortigen Dichtergesellschaft der Krokodile, 1873 Schüler der königlichen Musikschule und als Geiger Substitut im Hoftheater. Seit Oktober 1874 Musikreferent der Schlesischen Zeitung in seiner Heimatstadt (bald auch für Literatur, Kunst und Theater zuständig, Berichte aus Bayreuth über die ersten Festspiele), 1879 der Breslauer Zeitung, seit März 1880 in Wien – auf Empfehlung seines älteren Freundes Eduard Hanslick – bei der gerade gegründeten Wiener Allgemeinen Zeitung, kurz darauf auch Feuilleton-Redakteur deren Wissenschaftlicher Beilage. In Wien war er außerdem 1883–1890 Musikreferent der Presse, 1890–1895 der Montags-Revue und seit Ende 1895 des Neuen Wiener Tagblatts, der auflagenstärksten, nach der Neuen Freien Presse zweitwichtigsten österreichischen Zeitung, wo er schon seit 1886 Burgtheater-Referent war: eine in Wien damals einmalige Doppelstellung, die 25 Jahre Bestand hatte. Als Lyriker hatte er sich 1890 zurückgezogen, war dafür aber (schon seit 1885) als Übersetzer, Bearbeiter bzw. „Neudichter“ von fast 60 Operntexten, seit 1894 auch als Verfasser eigener Libretti (u. a. für Johann Strauss und Franz Lehár [1870–1948]) meist erfolgreich tätig. Als Vertrauter und Biograf von Johannes Brahms sowie als Herausgeber mehrerer Bände des Brahms-Briefwechsels ist Kalbeck ein auch für die Bruckner-Forschung wichtiger Zeitzeuge.

Mit der Person und dem Wirken Richard Wagners setzte sich Kalbeck intensiv und kritisch auseinander, im Falle Bruckners sah er aber wohl auf intellektueller Ebene kein gleichwertiges Gegenüber und blieb hier oberflächlicher. Sein Unverständnis für die Persönlichkeit und das Werk Bruckners, das für die Wagnerianer ein „Naturereignis“ war, gleicht dem von Brahms und blieb von der Uraufführung der 2. Fassung der Vierten Symphonie 1881, der er neben der Achten noch den meisten Respekt zollte, bis zur Uraufführung der Neunten Symphonie 1903 unverändert. Zwar stand für Kalbeck die „musikalische Begabung“ Bruckners, besonders in der Instrumentation, „außer Frage“, dieser entsprach aus seiner Sicht jedoch das kompositorische Werk nicht, das er aufgrund des „bis ins Unendliche“-Fortspinnens gerade der „dürftigsten und alltäglichsten Einfälle“, des ständigen Abschweifens und Wiederholens (Wiener Allgemeine Zeitung 23.2.1881, S. 2) bzw. dem Mangel an Konzentration und dem Überfluss an Ideen (Neues Wiener Tagblatt 14.2.1903, S. 1f.) ablehnte. Besonders charakteristisch ist z. B. Kalbecks großteils intensiv verurteilende und doch teilweise auch abwägende Auseinandersetzung mit der Uraufführung der Mittelsätze von Bruckners Sechster Symphonie in einem Philharmonischen Konzert am 11.2.1883 (Wiener Allgemeine Zeitung 13.2.1883, S. 1f.). Bei Themen- und Formbildung sah Kalbeck die Unordnung eines Gelehrtenzimmers; nach der umjubelten Aufführung der umgearbeiteten Ersten Symphonie 1891 (als Dank für das Ehrendoktorat) befand er, in diesem Werk sei alles Inspiration und beinahe nichts Arbeit (vgl. Die Presse 3.4.1886, S. 1f.). In seiner Brahms-Biografie, deren Umfang (leider nicht auch deren literarische Qualität) für die Bruckner-Biografie von August Göllerich und Max Auer sicherlich Vorbild war, trieb Kalbeck den Tonfall seiner Kritik an Bruckner allerdings auf die Spitze: Hier suchte er oft zu Verbalinjurien Zuflucht, die „den Bereich des Kriminellen“ (Floros, S. 67) streifen. Manche wohlwollender klingende Bemerkungen, besonders die über Bruckners Streichquintett in F-Dur (z. B. Die Presse 28.1.1885, S. 1ff.), sind Ausnahmen. Andererseits zeigte er unbeabsichtigt, vielleicht gerade durch seine von konservativ-ästhetischen Grundsätzen ausgehende Ablehnung, die zukunftsweisende Art von Bruckners Musik auf. Seine vermutlich überspitzt formulierte Beurteilung eines Konzertes mit Heinrich Schütz‘ (1585–1672) Die sieben Worte Jesu Christi am Kreuz und Bruckners Te Deum spricht für sich: „Während nämlich das eine noch keine Musik zu sein scheint, ist das andere bald keine mehr.“ (Die Presse 17.1.1886, S. 2). Bruckner zählte Kalbeck, dessen Adresse er sich 1883 in seinem Taschen-Notizkalender notiert hatte, zusammen mit Gustav Dömpke zu Hanslicks „zwei Adjunkten“, die „auf Commando schreiben“ (Briefe I, 840509) müssten, und beklagte sich ausgerechnet bei Kalbecks Freund Heyse (der allerdings ebenso Bruckner verehrte), dass er auch „in München keine Kritiker besitze, wie Brahms solche viele in Wien aufzuweisen hat“ (Briefe II, 901222/1).

In den beiden bekannten, in Anlehnung an Struwwelpeter entstandenen Karikaturen Otto Böhlers folgen die „Tintenbuben“ Hanslick, Kalbeck und Richard Heuberger dem übergroßen Bruckner (IKO 78 und 79; Ikonografie).

Schriften
  • Das Bühnenfestspiel zu Bayreuth. Eine kritische Studie. Breslau 1877
  • Feuilleton. Concerte, in: Wiener Allgemeine Zeitung, Morgenblatt 23.2.1881, S. 1ff.
  • Richard Wagner‘s Parsifal. Breslau 1883
  • Feuilleton. Fasten-Concerte, in: Wiener Allgemeine Zeitung 13.2.1883, S. 1f.
  • Wiener Opernabende. Berlin–Wien–Leipzig 1885
  • Gereimtes und Ungereimtes. Skizzen und Epigramme. Berlin 1885
  • Feuilleton. Concerte, in: Die Presse 28.1.1885, S. 1ff.
  • Feuilleton. Concerte, in: Die Presse 17.1.1886, S. 1ff.
  • Dichter und Symphoniker. Eine zeitgemäße Parallele (Bruckners E-Dur-Symphonie), in: Die Presse 3.4.1886, S. 1f.
  • Aus alter und neuer Zeit. Gesammelte Gedichte. Berlin 1890
  • Opern-Abende. 2 Bde. Berlin 1898
  • Dr. Anton Bruckner †, in: Neues Wiener Tagblatt 12.10.1896, S. 1f.
  • Feuilleton. Anton Bruckners Neunte Symphonie, in: Neues Wiener Tagblatt 14.2.1903, S. 1f.
  • Johannes Brahms. 4 Bde. Berlin 1904–1914 (mehrere Aufl.)
  • Capricen. Skizzen und Bilder. Wien 1905
  • Feuilleton. Konzerte, in: Neues Wiener Tagblatt 2.11.1910, S. 1f.
  • Antike und romantische Musen. Leipzig–Wien 1920
Literatur

UWE HARTEN

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 23.5.2019

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Kalbeck, (Julius) Max (Heinrich): 11603498X

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