Zyklus

Alle instrumentalmusikalischen Zyklen Bruckners sind viersätzig, und sie gestalten den Verlauf dieser Viersätzigkeit als ein Zielen des gesamten Werks auf einen finalen Höhepunkt. In dieses Konzept ordnet sich jeder der vier Einzelsätze, ungeachtet seines Eigenwerts, funktional ein. Für Bruckner liegt darin die Lösung des seit der öffentlichen Auseinandersetzung mit Ludwig van Beethoven zunehmend diskutierten Problems, für die Abfolge und Anordnung der verschiedenen Sätze ein Höchstmaß an Logik und Plausibilität zu finden. Obwohl für alle instrumentalmusikalischen Gattungen gültig (bei Bruckner beispielsweise auch für das Streichquintett in F‑Dur), ist dieser ästhetische Anspruch doch für die Symphonie schon von den Zeitgenossen als am höchsten empfunden worden.

Auf die Stringenz des symphonischen Zyklus hat Bruckner von Anfang an ein Hauptaugenmerk gerichtet. Selbst die in unterschiedlichen Schaffensphasen entstandenen Fassungen seiner Symphonien lassen sich in ihrer Eigenart auf diese Weise verstehen: als unablässige Suche nach der idealen Realisierungsform eines einheitlichen symphonischen Konzepts. Nur so lässt sich die strenge innere Logik in der Aufeinanderfolge der einzelnen Symphonien begreifen, zu der nicht zuletzt auch die nachträgliche Ausschließung der zwischen der Ersten und der Zweiten entstandenen Symphonie in d‑Moll, der „annullierten“ Symphonie aus dem Kreis der gültigen Werkgestalten gehört (vgl. Steinbeck 2010, S. 122f.). Selbstverständlich folgt diese Logik keinem starren Dogma, sondern einem flexiblen generativen Prinzip. Bestes Indiz dieser Flexibilität ist ein mehrmaliger Wandel des Konzepts: von seiner erstmaligen Fixierung und Stabilisierung in der Zweiten und Dritten Symphonie bis hin zu seiner gezielten Durchbrechung oder Aufhebung in der Neunten. Gelegentlich hat Bruckner auch satzübergreifende thematische Rückblicke dem Eindruck einer verstärkten zyklischen Integration des Gesamtwerks dienstbar gemacht (Finale).

Es gehört daher zur Charakteristik von Bruckners Symphonien, dass sie bestimmte Verfahrensweisen typisieren, also geradezu modellhaft ausbilden. Selbst gutwillige Rezipienten, so etwa sein Schüler Franz Schalk, haben diese Strategie zunächst als Festhalten an einem einfachen „Schema“ missverstanden (Schalk, S. 89f.). In dieser Eigenschaft sind Bruckners symphonische Verfahren in einem radikalen Sinne von der individuellen Gestalt des Einzelwerks unabhängig und beziehen ihre Rechtfertigung in erster Linie aus jenem übergeordneten Konzept, dessen schlüssige Formulierung v. a. den zahlreichen Bruckner-Analysen Wolfram Steinbecks zu verdanken ist (am konzisesten: Steinbeck 1993, S. 7–49). Ein Hauptthema, eine Gesangsperiode oder ein Schlussgruppenthema teilen physiognomische Gemeinsamkeiten über alle Symphonien Bruckners hinweg; und doch gehört jedes dieser Themen unaustauschbar nur „seiner“ Symphonie an. Für die Satzcharaktere auf der nächsthöheren Ebene des Zyklus gilt genau dasselbe (Kopfsatz, Langsamer Satz, Finale). Man kann im Blick auf Bruckners Symphonien geradezu von einem streng einheitlichen und rigoros typisierten kompositorischen Großprojekt sprechen, dem gleichwohl in beispielloser Weise die konzeptionelle Integration ausgeprägter Individuen gelingt. August Halm hat dies schon früh in die schöne Formel gefasst, es lasse sich „zwar große physiognomische Verschiedenheit unter den Symphonien Bruckners, aber doch ein wesentlich konstantes Ideal von Symphonie in ihnen wahrnehmen“ (Halm, S. 63).

Bei Bruckner zielt also der viersätzige symphonische Zyklus auf die Bündelung aller Sätze und aller Einzelereignisse zu einer übergreifenden Dramaturgie, der ein ausgefeiltes Regiekonzept aus Anläufen, Stauungen, Abbrüchen, Neuansätzen, Ballungen und Entladungen zugrunde liegt. Was jeder Einzelsatz innerhalb seiner Grenzen leistet – seinen spezifischen Beitrag zur Realisierung dieser symphonischen Prozessualität –, reproduziert sich auf der übergeordneten Ebene des Werkzyklus zu einem die gesamte Symphonie überwölbenden Steigerungsverlauf. Darauf zielt Steinbecks Vorschlag, die Charaktere und die Funktionen der einzelnen Sätze als Projektionen der drei Themencharaktere des Kopfsatzes auf die höhere Ebene des Zyklus zu verstehen (Steinbeck 1993, S. 48f.): Der hauptthematische Kopfsatz wird aus diesem Blickwinkel gefolgt von einem Adagio als großer „Gesangsperiode“, und das ganz auf rhythmische Prägnanz abgestellte Scherzo reproduziert den Charakter des Schlussgruppenthemas aus dem 1. Satz. Dem Finale kommt damit eine integrative Sonderstellung zu, die es durch die Organisation des finalen Hauptthema-Durchbruchs und seiner Potenzierung zum Höhepunkt der gesamten Symphonie erfüllt.

Von hier aus ließe sich auch erörtern, warum Bruckner von der Achten Symphonie an (und auch schon im Streichquintett in F‑Dur) mit der Umstellung der Mittelsätze experimentiert. Ursprünglich noch in der alten Satzfolge entworfen, reiht schon die 1. Fassung der Achten das Scherzo an 2. Stelle ein. Dem Adagio kommt damit die Funktion einer letzten tiefen Beruhigung vor dem finalen Anlauf des Schlusssatzes zu. Die besondere Monumentalität der Finalkonzeptionen der Achten (und, soweit aus dem erhaltenen Material erkennbar, auch der Neunten) bringt in der Tat eine neue Dimension in die Finale-Idee.

Literatur
  • August Halm, Die Symphonie Anton Bruckners [1913]. 2. Aufl. München 1923
  • Lili Schalk (Hg.), Franz Schalk, Briefe und Betrachtungen. Mit einem Lebensabriss von Victor Junk. Wien–Leipzig 1935
  • Wolfram Steinbeck, Anton Bruckner. Neunte Symphonie d-Moll (Meisterwerke der Musik 60). München 1993
  • Wolfram Steinbeck, Von den „Schularbeiten“ bis zur Zweiten Sinfonie, in: Bruckner-Handbuch 2010Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Bruckner-Handbuch. Stuttgart–Weimar 2010, S. 110–150

HANS-JOACHIM HINRICHSEN

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 22.9.2017

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