Scherchen, Hermann (Carl Julius)

* 21.6.1891 Berlin/D, † 12.6.1966 Florenz/I. Komponist und Dirigent.

Der Autodidakt begann seine musikalische Laufbahn 1907 als Bratschist verschiedener Orchester in seiner Heimatstadt Berlin. Auch als Dirigent fasste Scherchen früh Fuß und debütierte 1912 mit Werken Arnold Schönbergs (1874–1951) auf einer gemeinsam mit Schönberg unternommenen Tournee. Bereits 1913 führte Scherchen 22‑jährig mit den Berliner Philharmonikern Bruckners Neunte Symphonie auf. Während des Ersten Weltkrieges in Russland interniert, kehrte Scherchen 1918 nach Berlin zurück und gründete dort zusammen mit Herbert Graf die Musikzeitschrift Melos. In den folgenden Jahrzehnten war er in Leipzig, Frankfurt am Main, Winterthur und Königsberg (Kaliningrad/RUS) tätig. Die NS-Zeit (Nationalsozialismus) verbrachte Scherchen im Exil und kehrte erst 1946, aber nicht mehr dauerhaft, nach Deutschland zurück.

Der Triumph des Geistes über die Musik steht im Mittelpunkt von Scherchens Philosophie der Orchesterleitung (Blaukopf, S. 135). Seinem Credo, wonach Musik zuerst geistig erfasst werden muss, bevor man an die tatsächliche Ausübung gehen kann, blieb er, trotz aller Kritik auch anderer Dirigenten, zeitlebens treu. Kritik erntete er auch für seinen Vergleich des Orchesters mit einer Menschenorgel, die vom Dirigenten bespielt wird. Eindrücklich schilderte er seine Vorstellungen in seinem Lehrbuch des Dirigierens (1929).

Scherchen galt als Pionier der zeitgenössischen Musik. In seiner langen Laufbahn brachte er u. a. Werke von Béla Bartók (1881–1945), Alban Berg (1885–1935), Paul Hindemith (1895–1963), Arthur Honegger (1892–1955), Arnold Schönberg und Dimitri Schostakowitsch (1906–1975) zur Uraufführung. Aber auch Romantikern wie Bruckner hielt er die Treue. So dirigierte er nach der Kriegsgefangenschaft in seinem ersten Konzert Bruckners Sechste Symphonie mit den Berliner Philharmonikern. Zunächst vor allem den Symphonien zugetan, wagte sich Scherchen zunehmend auch an andere Gattungen aus Bruckners Werk. Er dirigierte etwa 1923 das Ave Maria (WAB 6 [?]) in Frankfurt am Main und 1926 Locus iste, Christus factus est (WAB 9 [?]), Os justi und Virga Jesse in Leipzig. Mit dem Gang ins selbstgewählte Exil versiegte Scherchens Bruckner-Rezeption zunehmend. Erst in seinen letzten Jahren wandte er sich Bruckner erneut zu. So dirigierte er 1961 die italienische Erstaufführung der Zweiten Symphonie in der Mailänder Scala sowie selbige nur wenige Monate vor seinem Tod im März 1966 in Graz. In diese Zeit fällt auch Scherchens einzige Bruckner-CD-Einspielung, jene der Zweiten Symphonie mit dem Toronto Symphony Orchestra 1965.

Werke
  • Kammermusik
  • Märsche
  • Chöre
  • Lieder
Schriften
  • Gustav Mahler, der Musiker-Philosoph. Berlin 1920
  • Lehrbuch des Dirigierens. Leipzig 1929
  • Das moderne Musikempfinden. Bd. 1: Vom Wesen der Musik. Zürich 1946
  • Musik für Jedermann. Ein Lernbuch zum Selbstunterricht. Winterthur 1950
Literatur

THOMAS HANDSCHUH

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 23.5.2019

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