Dirigenten

Die jahrhundertealte Tradition der Einheit von Komponist und Interpret geht im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker zugunsten der Trennung des schöpferischen vom reproduktiven Akt verloren. So ist Bruckner als Interpret seiner eigenen Werke nur in sehr bescheidenem Umfang aufgetreten (Bruckner als Dirigent), wobei er als Organist in erster Linie nicht bei der Wiedergabe eigener bzw. fremder Werke (z. B. von Johann Sebastian Bach) reüssierte, sondern als Improvisator (Orgel, Improvisationen), d. h. im kreativen Bereich gefeiert wurde. Als Chormeister der Liedertafel „Frohsinn“ dirigierte er dagegen sehr erfolgreich nicht nur eigene Chöre (Chormusik), sondern auch solche anderer Komponisten, die er überaus gewissenhaft einstudierte. Bruckners seltene Auftritte als Orchesterdirigent – ausschließlich eigener Werke (Erste Symphonie Linz 9.5.1868; Zweite Wien 26.10.1873 und 20.2.1876; Dritte 16.12.1877 an Stelle von Johann Herbeck) – kamen einerseits meist unter ungünstigen äußeren Umständen zustande, andererseits konnte sich Bruckner aufgrund seiner Persönlichkeit sowie der fehlenden Ausbildung bzw. der Unerfahrenheit im Umgang mit Orchestermusikern als Dirigent nicht durchsetzen.

Umso mehr war er bestrebt, professionelle Dirigenten von seinen Werken zu überzeugen und (von ihm selbst so bezeichnete) „künstlerische Väter“ und „Vormünder“ für seine „Kinder“, die Symphonien, zu finden. Angeblich hatte Richard Wagner 1882 Bruckner versprochen, selbst dessen Werke aufzuführen. Die sich im Wiener Akademischen Wagner-Verein zusammenfindenden Schüler und Freunde Bruckners – v. a. Franz Schalk und Josef Schalk sowie Ferdinand Löwe – setzten nach dem Tod des Bayreuther Meisters eine Art Propagandamaschinerie für den von Wagner sozusagen legitimierten Komponisten in Bewegung. Diese von Bruckner nicht ungern gesehene kulturideologische Vereinnahmung seiner Person und das exponierte Benehmen der Mitglieder des Wiener Akademischen Wagner-Vereins brachten ihm in den konservativen Musikkreisen Wiens eher Nachteile, während in Deutschland u. a. über die dortigen Wagner-Vereine der Kontakt zu hervorragenden Dirigenten wie Felix Mottl, Arthur Nikisch und Hermann Levi hergestellt wurde, die Bruckner schließlich mit ihren Aufführungen zum Durchbruch verhalfen. Insgesamt finden sich unter Bruckners ersten Dirigenten überdurchschnittlich viele Wagner‑ bzw. der Neudeutschen Schule verbundene Dirigenten, wie z. B. Walter Damrosch (1862–1950, USA [Nordamerika]), Karl Frank, Charles Lamoureux (1834–1899, Frankreich), Willibald Kähler (1866–1938), Karl Klindworth, Karl Muck, Jean Louis Nicodé, Anton Seidl (USA), Theodore Thomas (1835–1905, USA), Felix Weingartner, Franz Wüllner (1832–1902), Herman Zumpe und nicht zuletzt Hans Richter, der als Dirigent der Wiener Philharmoniker, wenn auch aufgrund der ablehnenden Haltung des Orchesters relativ spät, die meisten und erfolgreichsten Aufführungen zu Lebzeiten Bruckners dirigierte.

Von großer Bedeutung für die frühe Rezeption Bruckners waren ferner die lokalen Musikvereine kleinerer Städte, die über den musikalischen Parteiungen zu stehen pflegten und auch der zeitgenössischen Kunst (wenn auch naturgemäß etwas verzögert) eine gewisse Breitenwirkung verschafften. Als Dirigenten wirkten hier neben den Bruckner-Schülern August Göllerich (Linz) und Josef Pembauer (Innsbruck) sowie seinem Lehrer Otto Kitzler (Brünn) u. a. Josef Friedrich Hummel (1841–1919, Salzburg), Erich Wolf Degner (1858–1908) Martin Spörr (Graz) und Adalbert Schreyer (Linz), im Ausland beispielsweise Wilhelm Bayerlein (1842–1913, Nürnberg), Wladimir Labler (* 1847, Olmütz), Daniel de Lange (1841–1918, Amsterdam), Josef Thiard-Laforest (Pressburg) und Philipp Wolfrum (1854–1919, Heidelberg). Bis 1900 führten mindestens 70 Dirigenten in ca. 180 Konzerten in Europa und den USA Bruckners Symphonien auf. Diese Zahlen widerlegen das im Bruckner-Schrifttum bzw. auch von ihm selbst gepflegte Klischee des Verkannten und Unaufgeführten, allerdings war Bruckner sein Erfolg tatsächlich erst in seinen späteren Lebensjahren vergönnt. Fast alle Dirigenten hatten anfangs Schwierigkeiten bei der Aufführung zu bewältigen, einerseits wegen des mangelnden Verständnisses bei Publikum und Kritik, andererseits aufgrund von Problemen mit teilweise technisch unzulänglichen Orchestern und deren unwilligen Mitgliedern.

Bruckners Verhältnis zu seinen Interpreten war von ambivalentem Charakter und durchaus nicht problemlos. Wie man dem Briefwechsel (Briefe) mit bedeutenden zeitgenössischen Dirigenten wie Nikisch, Levi, Mottl, Muck und Weingartner entnehmen kann, legte Bruckner seinen Interpreten gegenüber ein devotes Verhalten an den Tag, das unter dem Aspekt des Abhängigkeitsverhältnisses des schöpferischen vom reproduzierenden Künstler zu sehen ist. Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wirkenden Dirigenten repräsentierten bereits den Typus des modernen, mit großem Selbstbewusstsein ausgestatteten Interpreten, der nicht primär dem Werk dient, sondern dem Komponisten mindestens auf gleicher Ebene entgegentritt und zu Eingriffen nach persönlichem, künstlerischem Empfinden berechtigt zu sein glaubt. Dieser zeitbedingten Entwicklung des Verhältnisses Komponist–Interpret war Bruckner aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur nicht gewachsen.

Dieser Aspekt spielt auch in der Beziehung Bruckners zu den Brüdern Schalk, zu Löwe und Gustav Mahler eine wesentliche Rolle, die mit allen Mitteln bestrebt waren, seinen Symphonien zu klanglicher Realisierung und Anerkennung zu verhelfen. Abgesehen von der Vorbereitung des Publikums durch Klavieraufführungen zu zwei und vier Händen und der Erstellung von Klavierauszügen, die gleichermaßen Werbezwecken dienten, waren sie der Überzeugung, die Partituren Bruckners bearbeiten zu müssen. Durch Kürzungen und tiefgreifende Änderungen in Instrumentation und aufführungspraktischen Details (Tempo, Spielanweisungen, Dynamik, Artikulation) wollten sie sie einerseits dem damals bereits vertrauteren Wagner‘schen Klangbild anpassen, andererseits den „Brucknerklang“ gefälliger, salonfähiger, „domestizierter“ machen. Diese nur zum Teil mit Zustimmung des Komponisten für bestimmte aufführungspraktische Situationen entstandenen Bearbeitungen gingen gegen den Willen des Komponisten in die Erstdrucke ein, die bis in die 1930er Jahre die Konzertpraxis beherrschten; von F. Schalk und Löwe wurden diese zu Unrecht als von Bruckner autorisierte Fassungen bezeichnet. Erst im Zuge der Erstellung der Alten Gesamtausgabe (AGA) wurde der originale Notentext Bruckners als Grundlage der klanglichen Realisierung herangezogen, wobei Siegmund von Hausegger insofern als Dirigent Überzeugungsarbeit leistete, als er 1932 die Uraufführung der Manuskriptfassung der Neunten Symphonie dirigierte und der Löwe-Bearbeitung gegenüberstellte.

Die zahlreichen Aufführungen von Bruckners Werken in der Ära des Nationalsozialismus spiegeln die ideologische Vereinnahmung des Komponisten, aber auch seiner Interpreten durch das Dritte Reich wider.

Die meisten Dirigenten wandten sich mit großem Interesse und wachsender Begeisterung den originalen Notentexten der Alten und (nach 1951) der Neuen Gesamtausgabe (NGA) zu – wobei die von Robert Haas für die AGA erstellten „Misch‑ bzw. Idealfassungen“ Anlass zu Diskussionen gaben. Einige wenige, wie Hans Knappertsbusch, Carl Schuricht und William Steinberg (1899–1978), beharrten auf den bearbeiteten Erstdruckfassungen, wobei man bedenken muss, dass auch vielen anderen Dirigenten jener Generation diese Versionen bereits in Fleisch und Blut übergegangen waren, sodass sie etliche dort vorkommende Modifikationen auch bei Verwendung der Gesamtausgaben beibehielten. Hausegger setzte sich als erster für die Originalfassungen ein. Heute ist es zur Selbstverständlichkeit geworden, den originalen Notentext Bruckners der Interpretation zugrunde zu legen.

Folgende Dirigenten des 20. Jahrhunderts (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) haben sich besonders für Bruckner eingesetzt: Volkmar Andreae, der seit 1907 mehr als 250 Aufführungen Bruckner‘scher Werke dirigierte, Hermann Abendroth, Eduard van Beinum, Wilhelm Furtwängler, Oswald Kabasta, Otto Klemperer, Lovro von Matačić, Willem Mengelberg (1871–1951), Hans Rosbaud, Ernst Schuch, Arturo Toscanini und Bruno Walter. Als der Bruckner-Dirigent schlechthin galt lange Zeit Eugen Jochum, der als Schüler Hauseggers mit den Werken des Komponisten schon frühzeitig vertraut wurde. Jochum nahm Mitte der 1960er Jahre als erster eine komplette Einspielung der Symphonien Bruckners vor. Aber auch Daniel Barenboim, Karl Böhm, Herbert Blomstedt, Sergiu Celibidache, Carlo Maria Giulini, Bernard Haitink, Herbert von Karajan, Joseph Keilberth, Rudolf Kempe, Rafael Kubelík, Lorin Maazel, Zubin Mehta, Sir Georg Solti, Stanisław Skrowaczewski, Georg Tintner und Günter Wand sind als bedeutende Bruckner-Dirigenten hervorgetreten, deren Interpretationen der Bruckner‘schen Symphonien oft von sehr unterschiedlichem Charakter sind.

Seit jüngerer Zeit spielen nicht mehr nur die mittlerweile in der NGA erschienenen Frühfassungen der Symphonien in Konzertaufführungen und Schallplattenaufnahmen eine nicht unbedeutende Rolle, sondern auch die klanglichen Realisierungen des fertiggestellten Finales der Neunten Symphonie. Als Dirigenten dieser Aufführungen von wissenschaftlich-künstlerischem Interesse, das den ursprünglichen Intentionen des Komponisten auf der Spur ist, sind Kurt Eichhorn, Peter Gülke, Nikolaus Harnoncourt, Eliahu Inbal, Hans-Hubert Schönzeler, Yoav Talmi (* 1943) und Kurt Wöss zu nennen. Die gegenwärtige Situation ist durch eine unübersehbare Vielfalt an Bruckner-Aufführungen gekennzeichnet: Nahezu alle international bekannten Dirigenten spielen die Werke Bruckners in den meisten Kulturstaaten der Erde.

Literatur

INGRID FUCHS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 1.9.2017

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