Russland (Rezeption)

Schon zu seinen Lebzeiten war Bruckners Name einigen russischen Musikern bekannt. Trotzdem war es sicher nur Zufall, dass er 1865 in München auf den russischen Pianisten, Komponisten, Dirigenten, Lehrer, Gründer des St. Petersburger Konservatoriums und Vorsitzenden der Russischen Musikgesellschaft Anton Rubinstein (1829–1894) traf, der Interesse für die ihm vorgelegten Sätze der Ersten Symphonie zeigte. 1878 schrieb Bruckner an Wilhelm Tappert über die Dritte Symphonie „H. Hofkap. Willner in Dresden hat mich auch eingeladen, ihm eine Partitur zu schicken; ebenfalls H. Direkt. Rubinstein in Moskau.“ (Briefe I, 781009). Die Rede war hier von Anton Rubinsteins Bruder Nikolai (1835–1881), der als Dirigent, Pianist und Konservatoriumsdirektor in Moskau tätig war. In den russischen Quellen gibt es keine Bestätigung einer Beziehung zwischen Bruckner und Nikolai Rubinstein.

Obwohl die Russische Musikzeitung in einem kleinen Nekrolog im Jänner 1897 Bruckner als Organisten und Komponisten von Symphonien, Messen, des Te Deum etc. würdigte, wurde er hier erst nach seinem Tod wirklich bekannt. Wahrscheinlich dirigierte der Russe Sergei W. Pantschenko (1867–1912) am 17.1.1901 in St. Petersburg mit der Vierten Symphonie erstmals ein Bruckner-Werk in Russland. Am 20.1.1901 stellte Max Fiedler (1859–1939) ebendort in einem Konzert der 1859 gegründeten Russischen Musikgesellschaft Bruckners Siebente vor. Die für 14.3.1902 geplante Aufführung der Vierten in St. Petersburg unter Gustav Mahler fand nicht statt.

Bruckners Werke wurden nicht nur in der damaligen Hauptstadt, sondern auch in Moskau aufgeführt; in der Saison 1903/04 zunächst die Fünfte unter Franz Schalk. Am 15.10.1905 war dann – wieder in St. Petersburg – die Neunte unter W. W. Woltschek erstmals zu hören. In den folgenden Jahren wurden die Siebente (Saison 1907/08 unter Oscar Fried [1871–1941]) und die Neunte Symphonie zumindest jeweils einmal gespielt, die Zweite im Dezember 1909 bei einem Gastspiel des Wiener Hofopernorchesters unter Arthur Nikisch.

Die wahrscheinlich erste Erwähnung des Namens Bruckner in der russischen Presse findet sich 1892 in einem Interview mit Pjotr Iljitsch Tschaikowski für die Zeitschrift Das Petersburger Leben, in dem er Bruckner in der Reihe der Komponisten nach Richard Wagner zusammen mit Karl Goldmark, Richard Strauss und Moritz Moszkowski (1854–1925) nannte. Von Wassily W. Jastrebtsew (1866–1934), Schüler und Freund von Nikolai A. Rimski-Korsakow (1844–1908), wissen wir, dass seinem Lehrer die Messe in d‑Moll und die Neunte Symphonie als Klavierauszug bekannt waren. Ein weiterer Schüler, der Komponist Alexander K. Glasunow (1865–1936), besuchte während seiner Auslandsreise in den 1890er Jahren Wien und hörte einige Aufführungen Bruckner‘scher Symphonien.

Die ersten Rezensionen in der russischen Presse waren jedoch überwiegend skeptisch formuliert. Bemängelt wurden – ebenso wie in der Heimat Bruckners – eine fehlende musikalische Form, sein „Wagnerismus“ und die „anstrengende“ Musik. Autoren, die Bruckners Wirken hoch einschätzten, waren z. B. Jewgeni M. Braudo (1882–1939) und Wjatscheslaw G. Karatygin (1875–1925), der seinem Artikel über Bruckner den symbolischen Titel „Das vierte B“ gab. Alexander W. Ossowsky (1871–1957) beschrieb in einem Programmzettel (1909) die polyphone Meisterschaft, die Tiefe des religiösen Gefühls und besonders die Adagios in Bruckners Symphonien („wir hatten wahrscheinlich seit Beethovens Zeiten nichts dergleichen“, Ossowsky, S. 297ff.). Die Beurteilung in der Russischen Musikzeitung änderte sich mit der Zeit; so wurde etwa 1912 Bruckner als Musiker beschrieben, der mit einem Orchester ganz ausgezeichnet umgehen könne.

Auch nach der Revolution gab es positive sowjetische Stimmen: So schrieb 1927 der Komponist und Musikwissenschaftler Boris W. Assafjew (1884–1949), dass Bruckner als großer Symphoniker der Wagner-Epoche in der UdSSR zwar noch ganz unbekannt sei, seine Werke aber mit der Zeit an Bedeutung gewinnen würden. Er widerlegte das Vorurteil von der Abhängigkeit von Wagner und zeigte Gemeinsamkeiten in der Kompositionsweise von Bruckner und Franz Schubert auf. 1940 bezeichnete Iwan I. Sollertinski (1902–1944) Bruckner sogar als symphonischen Nachfolger Schuberts und unterstrich Parallelen zu Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven und Wagner. Dieser bedeutende russische Musikwissenschaftler und Kritiker war bereits in jungen Jahren die Seele der Bruckner-Mahler-Gesellschaft, deren Mitglieder Symphonien beider Komponisten achthändig an Klavieren in privatem Rahmen spielten. In den Notizen Sollertinskis von 1921 bis 1943 gibt es eine vollständige Liste aller Aufführungen der Werke Bruckners und Mahlers (meistens in der Leningrader Philharmonie unter der künstlerischen Leitung von Sollertinski), oft mit berühmten ausländischen Dirigenten: Hermann Abendroth, Otto Klemperer, Vaclav Talich (1883–1961) und Bruno Walter.

Der heimische Pionier auf diesem Gebiet war Jewgeni A. Mrawinski, der als erster sowjetischer Dirigent Bruckners Werke regelmäßig auf den Spielplan setzte. Sein Orchester, die Leningrader Philharmoniker, hatte 1921–1971 mehr als 50 Mal Symphonien Bruckners im Programm — das ist besonders bemerkenswert, weil dessen Musik in der UdSSR lange Zeit aus dem Repertoire der Orchester verschwunden war.

In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts setzten sich Bruckners Werke auch in anderen Städten durch, vor allem Moskau erlebte glanzvolle Aufführungen unter der Leitung von Gastdirigenten wie Daniel Barenboim, Bernard Haitink, Günther Herbig (* 1931), Franz Konwitschny, Zubin Mehta, Wolfgang Sawallisch, Georg Solti, Johannes Wildner und auch von russischen Dirigenten wie Jewgeni Buschkow (* 1968), Karl Eliasberg (1907–1978), Wladimir Iwanowitsch Fedossejew, Mark Gorenstein (* 1946), Arvids Jansons (1914–1984), Dmitri Kitaenko (* 1940), Kirill P. Kondraschin (1914–1981), Juri Kotschnew (* 1942), Teodor Kurentzis (* 1972), Woldemar Nelsson (1938–2006), Michail Pletnjow (* 1957), Valery Polyansky (* 1949), Maxim Schostakowitsch (* 1938), Yuri Simonov (* 1941), Wassili Sinaiski * 1947) und Jewgeni Swetlanow (1928–2002). Gennadi Roschdestwenski dirigierte in den 1970er Jahren als erster das Requiem in d-Moll (WAB 39) und die Missa solemnis in der UdSSR. In der Saison 1983/84 fand der Zyklus Anton Bruckner und seine Zeit statt, bei dem u. a. alle elf Symphonien Bruckners (größtenteils in den von Leopold Nowak herausgegeben Partituren) gespielt wurden. In den Jahren 2003–2006 führte Pawel Kogan (* 1952) in seinen Abonnement-Konzerten alle Bruckner‘schen Symphonien auf. In den letzten Jahren wurden die früheren Fassungen der Dritten, Vierten und Achten Symphonie gespielt bzw. fanden russische Erstaufführungen der Drei Orchesterstücke und einiger weltlicher Chöre in Moskau statt. 2000 leitete Robert Bachmann (1944–2019) in Moskau die Rekonstruktion des Finales der Neunten Symphonie von Benjamin-Gunnar Cohrs.

Bruckners Musik setzte sich in Russland durch, was sich anhand zahlreicher Aufsätze und Dissertationen belegen lässt. Eine vollständige Monografie in russischer Sprache, die die Probleme der heutigen Bruckner-Forschung berücksichtigt und sich auf die Neue Gesamtausgabe stützt, fehlt aber bisher.

Literatur

BORIS MUKOSEY, STANISLAV TIKHONOV

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 21.9.2020

Medien

Kategorien

Links

ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft