Reichs-Bruckner-Orchester

Die nationalsozialistische Regierung betrieb Anfang der 1940er Jahre einen enormen Aufwand, um das von Adolf Hitler gewünschte Bruckner-Orchester St. Florian des Großdeutschen Rundfunks (ab Mai 1944 Umbenennung in Linzer Reichs-Bruckner-Orchester des Deutschen Rundfunks) zu formieren, welches nach dem Krieg für einen eigenen Sender mit Sitz in St. Florian für ernste Musik sorgen sollte. Von November 1942 bis März 1943 fanden insgesamt 15 Probespiele statt, in denen die besten Musiker des Deutschen Reiches eruiert werden sollten. Ziel war ein qualitativ den Berliner oder Wiener Philharmonikern ebenbürtiges Symphonieorchester zur musikalischen Gestaltung der Brucknerfeste sowie zur Bestreitung von Gastspielen im In- und Ausland und Rundfunkaufnahmen. Während des Krieges war die Verpflichtung erstklassiger Musiker schwierig, sodass erwogen wurde, andere Orchester (z. B. Rundfunkorchester Königsberg) zu schließen bzw. mehrere Orchester zusammenzulegen (z. B. Städtisches Symphonieorchester Linz und Landestheater-Orchester Linz).

Im ersten Jahr seines Bestehens, das als „Probenjahr“ (April 1943 bis April 1944) diente, wuchs das Orchester auf 91 Musiker an. Damit war die gewünschte Größe des Klangkörpers von mindestens 100 Musikern immer noch nicht erreicht. Für die künstlerische Leitung des Orchesters wurde Georg Ludwig Jochum verpflichtet, sein Stellvertreter war Willy Wickenhäuser (?–1994).

Im Rahmen der Konzerte während des „Probenjahres“, die auf Anweisung Hitlers lediglich in der Lokalpresse besprochen werden durften, wurden unter der Leitung von Jochum und Wickenhäuser neben den Symphonien Bruckners in der Regel Werke der Klassik und Romantik aufgeführt. Um die ganze Palette seiner Möglichkeiten aufzuzeigen, setzte Jochum außerdem Werke von Jean-Baptiste Lully (1632–1687), Antonio Vivaldi (1678–1741), Giovanni Gabrieli (1557–1612) oder Johann Christian Bach (1735–1782), aber auch Zeitgenössisches, wie die Symphonie Nr. 3 (1940) von Johann Nepomuk David auf das Konzertprogramm. Als Gastdirigenten wurden Oswald Kabasta, Carl Schuricht, Joseph Keilberth, Karl Böhm und Hans Knappertsbusch eingeladen.

Aufgrund der hervorragenden Probenarbeit unter der Leitung von Jochum – der zunächst nur für das „Probenjahr“ engagiert wurde, die Stelle des ständigen Dirigenten war ihm durch den Widerstand des Reichsintendanten Heinrich Glasmeier (1892–1945) keineswegs sicher – wuchs das Reichs-Bruckner-Orchester zu einem ausgezeichneten Klangkörper heran, der schließlich die Aufmerksamkeit von Herbert von Karajan auf sich zog. Er dirigierte am 23.7.1944 in St. Florian Bruckners Achte Symphonie. Die Pressestimmen waren durchwegs voll des Lobes für das erst knapp zwei Jahre bestehende Ensemble, das Ende 1944, nachdem sich Wilhelm Furtwängler im Rahmen seines Dirigats der Neunten Symphonie Bruckners am 11.10.1944 in St. Florian selbst ein Bild machen konnte, als Spitzen-Orchester anerkannt wurde. Die Einberufung Jochums zum Kriegsdienst und die damit verbundene Übernahme der Dirigentenstelle durch einen „Meisterdirigenten“ (Bruckner-Stift St. Florian, S. 230) verhinderte Furtwängler durch Intervention bei Joseph Goebbels (1897–1945).

Während der Bruckner-Chor St. Florian 1944 offiziell aufgelöst wurde, blieb das Reichs-Bruckner-Orchester zahlenmäßig stark reduziert bestehen – im April 1945 wurden etwa 50 Orchestermitglieder zum Kriegsdienst einberufen. Jochum befand sich nach einem Kurzurlaub bei seinem Bruder zu Ostern 1945 in einem Krankenhaus in Sonthofen in Bayern. Konzerte des Reichs-Bruckner-Orchesters fanden nach der Linzer Besetzung durch amerikanische Truppen ab Mai 1945 unter der Leitung von Fritz Straub, Solohornist des Orchesters, statt. Ende August 1945 trat das Reichs-Bruckner-Orchester das letzte Mal für die russische Besatzungsmacht in Urfahr in Oberösterreich auf.

Literatur

ANDREA SINGER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 17.11.2017

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