Choral

Die Bezeichnung „Choral“ ist bei Bruckner mehrdeutig:

1) Bruckner wählte selbst für einige Kompositionen die Bezeichnung „Choral“. Diese Bezeichnung wurde „zu Zeiten des jüngeren Bruckner in der katholischen Kirchenmusik für Kompositionen verwendet, die einen besonders ernsten, weihevollen Ausdruck haben sollen; dies sowohl im Stil als auch in der Ausführung.“ (Nowak, S. 5). Es sind dies die Altstimme „Alto Conc[erto] in Coral“ [sic] in der Messe in C‑Dur (WAB 25, „Windhaager Messe“), die Messe für den Gründonnerstag in F‑Dur (WAB 146, „Kronstorfer Messe“), der Choral (WAB 12) „Dir, Herr, Dir will ich mich ergeben“, der Choral (WAB 17,1‑2) „In jener letzten der Nächte“ sowie der Choral Alleluja Inveni David (WAB 20).

2) Mit „Choral“ werden auch manchmal die von Blechbläsern vorgetragenen akkordischen Passagen in den Symphonien bezeichnet, die Othmar Wessely als vom Aequale herstammend ableitet (vgl. Wessely).

3) Als „Choral“ werden auch die Choralthemen in den Symphonien bezeichnet, die Ähnlichkeit mit der Tradition des protestantischen Gemeindeliedes und mit den Chorälen von Johann Sebastian Bach aufweisen (so etwa die charakteristischen „Haltepunkte“ an den Zeilenenden). Sowohl das protestantische Liedgut (bei Leopold von Zenetti in Enns), als auch die Bach’schen Orgelwerke (ebenfalls bei Zenetti und v. a. im Selbststudium) hat Bruckner kennengelernt.

Die Bedeutung des gregorianischen Chorals für Bruckners Schaffen, speziell für die Kirchenwerke, wird in der Literatur zwar allgemein betont, ist jedoch noch nicht ausführlich untersucht worden, sieht man von einigen wenigen Studien der letzten Jahrzehnte ab. Hier stellt sich zunächst die Frage, wann und wo Bruckner den gregorianischen Choral kennengelernt hat. Als Sohn eines Landschullehrers, der gleichzeitig Organist und Mesner war, als Sängerknabe und später selbst als Lehrer und Organist in St. Florian sowie als Dom- und Stadtpfarrorganist in Linz war Bruckner von Anfang an im kirchenmusikalischen Milieu gleichsam beheimatet. Allerdings fiel seine Jugend in eine Zeit, in der die Choralpflege fast darniederlag. Das Vierteljahrhundert nach Ludwig van Beethovens und Franz Schuberts Tod ist gekennzeichnet durch einen allgemeinen Niedergang der Kirchenmusik. Man zehrte noch vom Erbe der Klassik und deren weitgestreuten Ausläufern und allmählich obsiegten Unbekümmertheit und eine gewisse Routine über liturgische Bedenken. Franz Xaver Glöggl (1764–1839) gab 1828 in Wien eine Kirchenmusik-Ordnung heraus, ein Erklärendes Handbuch des musikalischen Gottesdienstes für Kapellmeister, Regenschori, Sänger und Tonkünstler. Anleitung, wie die Kirchenmusik nach Vorschrift der Kirche und des Staats gehalten werden soll, das in erster Linie für die Diözesen Wien und Linz gelten sollte. Die Reinhaltung der liturgischen Texte wird darin ausdrücklich gefordert. An Choralarten nennt Glöggl den einstimmigen, auch orgelbegleiteten Choral, den mehrstimmigen für besondere Gelegenheiten und den figurierten, der oft von Posaunen gestützt werde. Andere Choralveröffentlichungen aus dieser Zeit waren die Theoretisch-praktische Chorallehre zum Gebrauch beym katholischen Kirchen-Ritus (1828) des Linzer Domorganisten Johann Baptist Schiedermayr, dessen Choralausgaben mit Orgelbegleitung sowie Johann Matthias Kainersdorfers (1778–1837) Choral bey pfarrlichen Processionen (ca. 1840). Bruckners Jugend fiel also schon in eine Zeit, in der man sich um die Restauration der Choralpflege bemühte.

Ignaz Traumihler bescheinigte am 19.12.1855 dem gerade vor der Übersiedlung nach Linz stehenden Bruckner, „daß er in der Begleitung des gregorianischen Choralgesanges hier bereits so viele Uebung hatte, d[aß] er auf diesem Gebiete der religiösen Musik keineswegs mehr als ein Neuling angesehen werden darf.“ (Dom- und Stadtpfarrorganist, Dokumente, S. 49f.). Und von der weltlichen Vogtei wurde Bruckner am 11.1.1856 anlässlich seiner Bewerbung zum Dom- und Stadtpfarrorganisten unter anderem wegen seiner Ausbildung in St. Florian empfohlen: „3.) Ist derselbe in einem so ansehnlichen Kloster gebildet worden, wo er mehr, als jeder andere der Kompetenten Gelegenheit hatte, sich in dem, besonders für eine Kathedrale so nothwendigen Choral-Gesange hinlänglich auszubilden.“ (Dom- und Stadtpfarrorganist, Dokumente, S. 63).

In den wenigen Arbeiten zum Thema „Bruckner und der gregorianische Choral“ herrschen zwei unterschiedliche Standpunkte vor: Der erste betont eine bis in einzelne Intervalle nachweisende Deszendenz des Bruckner‘schen motivischen Materials speziell der Kirchenwerke von der Gregorianik; der zweite Standpunkt schließt Übernahmen aus dem gregorianischen Choral fast aus und sieht selbst die Choralparaphrase Ave Regina als Eigenschöpfung Bruckners an, wie etwa Leopold Nowak im Revisionsbericht schreibt: „Man erkennt […], daß das ‚Ave Regina coelorum‘ nicht zu einer bereits vorhandenen Melodie (von woher auch immer) als Harmonisierung entstanden ist, sondern Bruckners geistiges Eigentum ist.“ (Nowak, S. 139). Gerade bei dieser Antiphon sind die melodischen Entsprechungen zum gregorianischen Choral jedoch evident (s. Maier, S. 115f.).

Literatur

ELISABETH MAIER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 1.9.2017

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