Nekrologe

Zum Tod Bruckners am 11.10.1896 erschienen – mit dem üblichen drucktechnisch bedingten Abstand in der Regel erst zwei Tage später – 76 Nekrologe in den österreichischen Zeitungen (Pressewesen zur Zeit Bruckners), die meisten davon in Wien, einige in Linz und auch in anderen Provinzstädten. Sie belegen in ihrer Gesamtheit den Grundstock einer Rezeptionsgeschichte, deren wesentliche Konstanten trotz vieler Bemühungen seitens der Forschung zum Teil noch immer andauern. Drei Text-Ausschnitte seien vorangestellt.

Illustrirtes Wiener Extrablatt 12.10.1896, S. 3: „Während ein Theil des Publicums den Meister übermäßig pries und fast Abgötterei mit ihm trieb, wurde er von anderer Seite auf das Heftigste angegriffen und seine Bedeutung arg herabgesetzt. Bruckner war eine geniale Natur, dem leider oft die Selbstkritik und die Kraft fehlte, die Eingebungen seiner überschwänglichen Phantasie zu controliren. Richard Wagner hatte es ihm angethan und dem Banne dieses Giganten vermochte er sich nicht immer zu entziehen.“

Deutsches Volksblatt 12.10.1896, S. 1: „Tief trauert sein Vaterland, Deutsch-Oesterreich, dem Bruckner unwandelbare Treue geschworen, und das er nun doch verlassen mußte, um emporzusteigen ‚zu and‘rer Welten Thor‘. Den Saiten seiner Harfe, die er, ein echter Barde, zum Ruhme deutscher Kunst meisterhaft schlug, entspringt nicht mehr, einem Waldstrom gleich, die schier unerschöpfliche Fülle seiner gewaltigen Harmonien, entquellen nicht mehr die traulichen Klänge inniger, keuscher Empfindung!“

Fremden-Blatt 16.10.1896, S. 7: „Mit seinem Tode ist Bruckner‘s Musik nicht begraben. Sie hat noch viel reichlicher gehört zu werden als bisher. Die Partituren seiner Symphonien wird man aber nicht aufhören zu lesen, denn findet man in ihnen auch nicht die frei in sich schwebenden Sonnensysteme unserer Klassiker, an wunderbar aufglänzenden Meteoren ist darin kein Mangel.“

Die Verfasser der Nekrologe spiegeln in ihrer Pluralität jene spezifischen Sichten auf den Komponisten, die später auch die Autoren der Bruckner-Monografien auszeichnen. Die Sichten des Freundeskreises und der Schüler, der kritischen Gegner und interpretatorischen Zweifler, der Autoren, die aus katholischer Sicht Bruckner nahestanden, wie solcher, die ihn deutschnational vereinnahmten, historisch-biografischer Chronisten, Hermeneutiker (Hermeneutik) und Inhaltsdeuter, Stilkritiker und Formspezialisten oder auch Versuche einer geistesgeschichtlich relevanten Zuweisung stehen im Zeitraum von knapp einem Monat in mehr oder weniger längeren Artikeln so nebeneinander, wie die Biografien der letzten 120 Jahre, vielleicht mit Ausnahme jener von Paul‑Gilbert Langevin aus dem französischen Raum (Lausanne 1977), Lidija Grigorevna Rappoport aus Moskau (1963) oder einiger jüngster (sachlicher) Darstellungen.

Für diesen Umstand bieten sich drei Erklärungsthesen an: 1) dass die Rezeptionsgeschichte sich durchaus langsamer verändert, als wir dies gewöhnlich zuzugeben bereit sind; 2) dass die kulturpolitische Szene der späten 1890er Jahre sich gar nicht so wesentlich von der heutigen unterscheidet; und 3) dass sich vorwiegend Autoren zu Bruckner geäußert haben, die den verschiedenen Positionen zugehörig sind bzw. sich zugehörig fühlen.

Methodisch zeigt sich jedenfalls, dass sich im 19. und 20. Jahrhundert die Beurteilungen der Nekrologe im Wesentlichen nicht von den Sichtweisen der Biografik unterschieden, ja möglicherweise durch die Nekrologe in einer Art „gesteuerter“ Rezeption Ansatzpunkte für viele spätere Biografien und Studien gelegt wurden.

Nekrologe (Auswahl)

Hedwig Abel (1870–?), in: Wiener Fremdenblatt 29.10.1896, S. 13f.
Anonym, in: Neues Wiener Tagblatt 12.10.1896, S. 2
Anonym, in: Illustrirtes Wiener Extrablatt 12./13.10.1896, S. 1 und 3
Anonym, in: Neuigkeits-Welt-Blatt 15.10.1896, S. 25
Ferry Bératon, in: Wiener Salonblatt 18.10.1896, S. 10f.
Balduin Bricht (1852–1937), in: Österreichische Volks-Zeitung 12.10.1896, S. 1f.
Karl Josef Fromm (1873–1923), in: Reichspost 14.10.1896, S. 2f.
Hagen, in: Ostdeutsche Rundschau 13.10.1896, S. 1f.
Eduard Hanslick, in: Neue Freie Presse 12.10.1896, S. 2f.
Friedrich von Hausegger, in: Grazer Tagblatt 13.10.1896, S. 1f.
Theodor Helm, in: Deutsche Zeitung 13.10.1896, S. 1f.
Theodor Helm, in: Neue musikalische Presse 18.10.1896, S. 1‑4
Theodor Helm, in: Österreichische Musik- und Theaterzeitung 1.11.1896, S. 4ff. (1. Teil) und 15.11.1896, S. 6f. (2. Teil)
Richard Heuberger, in: Neue Freie Presse 13.10.1896, S. 1f.
Richard Heuberger, in: Wiener Tagblatt 13.10.1896, S. 1f.
Richard Heuberger, in: Fremden-Blatt 12.10.1896, S. 5f.
Robert Hirschfeld, in: Wiener Abendpost, Beilage zur Wiener Zeitung 12.10.1896, S. 6 und 21.11.1896, S. 5f.
Camillo Horn, in: Deutsches Volksblatt 12.10.1896, S. 1‑4
Max Kalbeck, in: Neues Wiener Tagblatt 12.10.1896, S. 1f.
Albert Kauders (1854–1912), in: Neues Wiener Journal 12.10.1896, S. 2
Albert Kauders, in: Wiener Allgemeine Zeitung 13.10.1896, S. 1f.
Otto Keller (1861–1928), in: Deutsche Kunst- und Musikzeitung 15.10.1896, S. 1f.
Richard Kralik von Meyrswalden, in: Das Vaterland 14.10.1896, S. 1
Josef Scheu, in: Arbeiter-Zeitung 13.10.1896, S. 5f.
Gustav Schönaich, in: Die Presse 13.10.1896, S. 1f.
Ludwig Speidel, in: Fremden-Blatt 16.10.1896, S. 6f.
Hans Johann Georg Woerz, in: Wiener Sonn- und Montags-Zeitung 19.10.1896, S. 1f.

Literatur

MANFRED WAGNER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 17.10.2019

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