Speidel, (Johann Georg) Ludwig

* 11.4.1830 Ulm, (Baden-)Württemberg/D, † 3.2.1906 Wien/A. Schriftsteller, Musik- und Theaterkritiker.

Erhielt in Ulm seine musikalische Ausbildung, studierte in München als Gasthörer und war dort Musikreferent bei der in Augsburg erscheinenden überregional bedeutenden Allgemeinen Zeitung, kam 1853 nach Wien und schrieb zunächst als Korrespondent für diese Zeitung, daneben als freier Mitarbeiter für verschiedene Wiener Blätter: u. a. Morgen-Post, Die Donau, Fremden-Blatt, Journal des Österreichischen Lloyd, deren Nachfolgeblatt Österreichische Zeitung, Die Presse, Wiener Zeitung (1858–1860) sowie Das Vaterland (1860–1864). Über 40 Jahre war er fest angestellter Kritiker beim Fremden-Blatt (bis 1901), 1864–1867 und 1873–1900 daneben vorwiegend Burgtheater-Kritiker bei der Neuen Freien Presse (als Kollege Eduard Hanslicks). 1867–1873 war er Feuilletonchef der „alten“ Presse und kurze Zeit bei der Deutschen Zeitung tätig. Die angebotene Direktion des Burgtheaters schlug er 1887 aus. Er war als geistvoller Feuilletonist und Kritiker in weiten Kreisen geschätzt und zählte neben Daniel Spitzer (1835–1893), Ferdinand Kürnberger (1821–1879) und Ludwig Hevesi (1843–1910) zu den wichtigsten Repräsentanten des Wiener Feuilletons, der auch frühzeitig die Qualität des Schaffens u. a. von Adalbert Stifter und Johann Nepomuk Nestroy (1801–1862) erkannt hatte.

Speidel darf (neben Theodor Helm) als einer der markanten Wortführer derjenigen Wiener Kritiker angesehen werden, die, im Gegensatz zu seinem viel einflussreicheren Kollegen Hanslick und dessen „Anhängern“, eher die Richtung der Neudeutschen Schule vertraten – obwohl gerade er persönlich im Innersten ein Gegner der Anschauungen eines ihrer Exponenten, des Musikdramatikers Richard Wagner, war. Als einer der ersten Kritiker hat Speidel schon sehr früh die Bedeutung Bruckners erkannt und ist in der Wiener Zeitung und im Wiener Fremden-Blatt wiederholt für ihn eingetreten. Aus seiner Feder stammt auch die erste öffentliche Anerkennung Bruckners als Organist in Wien: Bei Bruckners Probespiel in der Piaristenkirche 1858 zeigte Speidel sich begeistert über dessen Improvisationskünste und stellte „Spuren der Mendelsohn‘schen [sic] Richtung“ fest (Wiener Zeitung 24.7.1858, S. 884), was den Organisten, gerührt über Speidels ausführliche Schilderung, dazu veranlasste, brieflich seinen Freund Rudolf Weinwurm um die Adresse des Kritikers und „mehrere Exemplare des schönen Blattes [Wiener Zeitung]“ (Briefe I, 580801) zu bitten. Nach einer Aufführung in der Hofkapelle 1867 äußerte sich Speidel allerdings kritisch über die Messe in d‑Moll, die er „poetisch im Sinne der Zukunftsmusiker“, nicht dem Messtext entsprechend bezeichnete, empfahl aber, dem anschließend wieder improvisierend auftretenden Komponisten dringend einen Organistenposten in Wien zuzuweisen (Fremden-Blatt 11.2.1867, S. 5). Nach der Uraufführung der Zweiten Symphonie zum Abschluss der Weltausstellung 1873 in Wien berichtete Speidel, dass „uns aus dieser Symphonie eine musikalische Persönlichkeit entgegen[tritt], welcher die zahlreichen Gegner, die sie gefunden, nicht würdig sind, die Schuhriemen aufzulösen“ (Fremden-Blatt 28.10.1873, S. 6). Nach der von Bruckner selbst dirigierten Uraufführung der Dritten (2. Fassung) 1877 meinte Speidel, dass trotz des Meinungsstreits Bruckner „die Brücke in die Zukunft geschlagen“ habe (Fremden-Blatt 22.12.1877, S. 6). Vom Komponisten wurde er eindeutig zu den ihm „freundlich“ gesinnten Rezensenten gezählt (Brief an Josef Sittard, Briefe I, 860324).

Bei aller Wertschätzung Bruckners hatte Speidel durchaus auch kritische Einwände: Er äußerte gewisse Vorbehalte gegen die große Ausdehnung der einzelnen Symphonie-Sätze (Vierte Symphonie, Fremden-Blatt 26.2.1881, S. 5f.) und die relative Unübersichtlichkeit des formalen Aufbaus, nannte z. B. das Finale der Achten Symphonie „ein titanisches Unternehmen, das an der eigenen Maßlosigkeit scheitert“ (Fremden-Blatt 25.12.1892, S. 5), fand in der Siebenten manches „fremdartig“, war aber bereit, sie durchaus anzuerkennen (Fremden-Blatt 7.3.1889, S. 6). Fast restlose Begeisterung spricht aus seinen Rezensionen zum Te Deum und zur Messe in f‑Moll. Die Aufführung des Streichquintetts in F-Dur nannte er „Eine Tonarten-Odyssee der abenteuerlichsten Art!“ (Fremden-Blatt 18.11.1881, S. 5). Die schwierig auszuführenden Bruckner-Chöre stellten nach seiner Meinung „die höchsten Anforderungen“ an die Ausführenden; als Beispiel sei Um Mitternacht (WAB 90) 1887 hervorgehoben, nach deren zweiten Aufführung Bruckner „die Huldigungen des Publikums“ (und Speidels) entgegennehmen konnte (Fremden-Blatt 9.4.1887, S. 5).

Resümierend gab er 1894 seinen – für seine Zeit fast „ketzerischen“ – Gesamteindruck wieder: „Mit einer ungewöhnlichen Energie“ habe Bruckner „Motivbildungen im Sinne Wagner‘s unter das Joch der symphonischen Form gebeugt und ihnen Keime zur thematischen Entwicklung eingeimpft“. Und damit habe er doch wieder „seine Unabhängigkeit von Wagner, sein Einlenken in Beethoven‘sche Bahnen, sein[en] Anschluß an Schubert“ gezeigt (Fremden-Blatt 4.9.1894, S. 6).

Die vom gebürtigen Ulmer Hugo Wittmann (1839–1923) herausgegebenen überwiegend biografischen Essays Speidels (Ludwig Speidels Schriften) beschäftigen sich v. a. mit Malern, Philosophen und Literaten.

Schriften
  • Wiener Zeitung, Abendblatt 24.7.1858, S. 883ff.
  • Theater und Kunst. Musikalisches, in: Fremden-Blatt 11.2.1867, S. 5
  • Konzert, in: Fremden-Blatt 28.10.1873, S. 5f.
  • Konzert, in: Fremden-Blatt 22.12.1877, S. 5f.
  • In dem großen Orchester-Konzert, in: Fremden-Blatt 26.2.1881, S. 5f.
  • [Konzerte], in: Fremden-Blatt 18.11.1881, S. 4f.
  • (Hg. gem. mit Hugo Wittmann), Bilder aus der Schillerzeit. Mit ungedruckten Briefen an Schiller. Berlin u. a. 1884
  • Konzerte, in: Fremden-Blatt 9.4.1887, S. 5f.
  • [Konzerte], in: Fremden-Blatt 7.3.1889, S. 6
  • Auf der Höhe. Zur Erinnerung an Wilhelm Schenner. o. O. 1891
  • [Konzerte], in: Fremden-Blatt 25.12.1892, S. 4f.
  • Anton Bruckner. Zu seinem siebzigsten Geburtstag, in: Fremden-Blatt 4.9.1894, S. 5f.
  • Feuilleton. Eine Wiener Figur. Anton Bruckner, in: Fremden-Blatt 4.9.1894, S. 13f.
  • Ludwig Speidels Schriften. 4 Bde. Berlin 1910–1911
Literatur

UWE HARTEN

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 27.5.2019

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