Satztechnik

Symphonische Satzstrukturen resultieren aus bestimmten konkreten Satztechniken, die der Komponist anwendet, um seine Ideen in Noten zu setzen. Die punktuelle Untersuchung einzelner Elemente muss im Auge behalten, dass alle satztechnischen Mittel zusammen das organische Strukturgefüge ergeben, welches die symphonische Idee zur Gestalt bringt. Der Sinn der Einzelstrukturen ergibt sich erst aus dem zyklischen Großformat, in welchem Bruckners Symphonien sich präsentieren.

In melodischer Hinsicht erweist sich Bruckners Gestaltungskraft zuerst in seiner Themenerfindung. Das unverwechselbare Profil der meisten seiner Themen und Motive (Motivik) verleiht jeder Symphonie, jedem Satz, jeder Themengruppe ein individuelles Bild; an Schlüsselpositionen des Formverlaufs (Form) erleichtert ihre Identität dem Hörer die Orientierung. Andererseits sind die Themen dank ihrer intervallischen und harmonischen Struktur offen für Abwandlung und Verwandlung. Die sukzessive Entfernung der Varianten vom Urbild ermöglicht die Streckung des motivischen Materials über längere Formteile bei zunehmender melodischer und harmonischer Anspannung.

Mit der Variantenbildung verbinden sich die Prinzipien der Motiv-Imitation und ‑Addition. Die variierte Reihung erlaubt die Ausfüllung großer Formteile, ohne dass neue Erfindungen hinzukommen müssten. Die Hörerfahrung, wonach ein abgewandeltes Motiv dank seiner beibehaltenen rhythmischen Anordnung als selbiges wiedererkannt wird, erlaubt Bruckner eine unerschöpfliche Variabilität in der Änderung der Intervalle, Richtungswechsel eingeschlossen. Motivadditionen haben vor allem in Steigerungsabschnitten und bei Höhepunkten ihren Platz. Vom Bewegungsstrom der Steigerung wird die satztechnische Flexibilität, wie sie in den übrigen Formteilen waltet, übergangen und mechanisiert; analog hält die Höhepunktsfläche die aktuelle Motivbewegung rotierend fest, oder die Kulmination der Steigerung bringt den Durchbruch zum Neuartigen.

In der Vorbereitung von Höhepunkten bauen rhythmische und melodische Partikel unter fortgesetzter crescendo-„Registrierung“ ein Energiefeld auf, das nach sorgfältig berechnetem Taktablauf ein zurückliegendes oder einzuführendes Thema zum Durchbruch bringt. „Durch dieses Verfahren erhalten neue Themeneinsätze oder deren Wiederkehr ihre häufig spektakuläre Wirkung. Denn in dem Maße, wie sich derart markante Themen durch fortgebildete Variantenreihung auflösen, wird ihr unversehrtes Wiederkehren oder der Einsatz eines neuen Themas zum tatsächlich herausragenden Ereignis.“ (Steinbeck, S. 23).

Zur Verknüpfung im zeitlichen Nacheinander wäre das Korrelat die synchrone Kombination thematischer Teile. Elementare Intervallstrukturen erlauben eine richtungsverkehrte Spiegelung bei vielen Gebilden, wobei der gemeinsame Rhythmus (mitunter phasenverschoben) erhalten bleibt. Eine alternative Konjunktion ist die Verschränkung ein und desselben Motives bei Intervallbewegung in gleicher Richtung und gleichzeitiger Augmentation oder Diminution. Natürlich ist in all diesen Fällen die individuelle Angleichung einzelner Intervalle an die jeweilige Harmonie geboten, wodurch das einheitliche Hörbild nicht beeinträchtigt, sondern im Gegenteil mit Spannung erfüllt wird. Themen, die Bruckner zur kontrapunktischen Verknüpfung vorsah, sind von vornherein rhythmisch und melodisch komplementär entworfen, so dass sie sich gegenseitig kontrapunktieren können.

Unter den formtragenden Elementen kommen der Harmonik wichtige Funktionen zu. Stark durchsetzt mit Alterationen wirken die daraus resultierenden leittönigen Harmonien vorwärtsdrängend. Selten werden Perioden kadenzierend (mit harmonischem Gefälle zur Tonika) geschlossen; gewöhnlich mündet die harmonische Bewegung an den Zäsuren in Dominantbeziehungen, die ihre Einlösung im nächsten Abschnitt suchen; die Fortführung erfolgt oftmals aber trugschlüssig, also einmündend nicht in die erwartete Tonika, sondern in einen anderen, „unerwarteten“ Klang.

In den Dienst der Gliederung des Formverlaufs stellt Bruckner bevorzugt zwei doppelt leittönige Vierklänge: den Septakkord der 2. (Dur-)Stufe mit zweifacher Alteration (Terz erhöht, Quint erniedrigt) als übermäßigen Terzquartakkord (eingelöst in die 5. Stufe) und den Septakkord der 4. (Dur-)Stufe mit dreifacher Alteration (Grundton erhöht, Terz und Sept erniedrigt) als übermäßigen Quintsextakkord (eingelöst in den Quartsextvorhalt der 5. Stufe). So verläuft die Steigerung zum Höhepunkt im Adagio der Siebenten Symphonie über diese harmonischen Schlüsselpunkte (T. 169f., 171f., 176f.). An Nahtstellen sind neben dominantischen auch (nicht diatonisch) terzverwandte Verbindungen geeignet, Formteile zu verknüpfen. Im harmonischen Verbund stellt Bruckner oft Klänge der erweiterten Klein- oder Großterzverwandtschaft nebeneinander. Gegenläufig zu dominantischen Verbindungen (mit authentischen Grundtonfortschreitungen) wirken modale Klangfolgen, die (im Rückgriff auf den modalen Satz) oft mehrfache, plagale Grundtonfortschreitungen in Folge bringen.

Aus seiner (partiellen) Bindung an tradierte Satztechniken macht Bruckner streckenweise reichlichen Gebrauch von harmonisch-melodischen Sequenzen. Im Adagio der Fünften Symphonie beherrschen sie die Reprise der 1. Themengruppe im handwerklichen Sinne einer „Sequenzenmechanik“, allerdings dynamisch-instrumental differenziert und klanglich aufgewertet durch die Einbindung von Dissonanzen.

„Langen Atem“ beweist Bruckner in Partien, die mit Hilfe von Sequenzierungen ein sorgfältig ausgelotetes Dissonanzengeflecht über lange Perioden aufrechthalten. Eine extensive Sequenz, die den ganzen Quintenzirkel bei wechselnder Motivstruktur durchmisst, ist in das Finale der Sechsten Symphonie eingebaut (T. 340–356). Chromatisch-harmonische Sequenzen, bei denen alterierte Klänge mehrfach halbtonversetzt werden, schrauben in Steigerungen die Spannung in die Höhe. Im Spätstil gelangte Bruckner zu Sequenzmodellen von extremer harmonischer Anspannung. So zeigt eine Particellskizze zum Finale der Neunten eine im Tritonusfall und Sekundanstieg taktweise alternierende harmonisch-melodische Sequenz über 20 Takte hin (AGA Band 9, Sonderdruck [Alfred Orel, 1934; Entwürfe und Skizzen zur IX. Symphonie], S. 138 bzw. NGA zu Band IX [John A. Phillips, 1996; Faksimile-Ausgabe]).

Die weitgefassten Dimensionen der Bruckner-Symphonien sind auf der Basis von abgezählten Periodenbildungen errichtet. Mit Ziffern sind in Skizzen (auch in Improvisationsskizzen) und Partituren die metrischen Relationen abgesichert. Beziehungsmaßstab sind die klassischen 8‑ und 16‑taktigen Einheiten mit ihren Unterteilungen und (geradtaktigen) Erweiterungen und Verkürzungen. Dabei verhindert aber Bruckners ausgreifendes Konzept das Verharren in einer der „Quadratur der Tonsatzkonstruktion“ (Richard Wagner) deckungsgleichen musikalischen Erfindung.

Die konstruktive Periodizität nimmt sichtbare Konturen an in der klaren Abgrenzung der Formteile, die abgesehen von Strukturwechseln vielfach durch Generalpausen abgesteckt werden. Innerhalb dieser blockhaften Abgrenzungen addieren sich oftmals rhythmische und motivische Partikel zu großflächigen Geweben, besonders in Steigerungen und Höhepunkten. Solche additiven Entfaltungen können auch bogenförmig angelegt sein. Mehrheitlich brechen hohe dynamische Flächen unvermittelt ab oder werden auf kurzem Weg zurückgenommen.

Die periodischen Bemessungen erlauben Strukturwechsel, verbunden mit dynamischen und farblichen Kontrasten, in vielfach gestuften Größenordnungen. Baukastenartig werden kleine Formteile unterschiedlicher Lautstärke, Klangfarbe und Thematik zum Formganzen gereiht und gefügt. Dabei zeigen Bruckners frühere Konzepte einen spontanen, unbefangenen Umgang in der Disposition kleiner Teile und Einschübe, während er in späteren Schaffensphasen den Formverlauf mit größerer Kontinenz anlegt. Dieser „Wandel des Konzepts“ (Manfred Wagner) zeigt sich musterhaft an der fortschreitenden, formalen Vereinfachung in den drei Fassungen der Dritten Symphonie.

Die von Bruckner praktizierte architektonische und strukturelle Disposition zeitigt über weite Strecken orgelgemäße Strukturen. Als Organist (Orgel) war Bruckner, schon bevor er Symphonien schrieb, versiert im Umgang mit den typischen Klangvorgaben seines Instruments: Gegenüberstellung von Registergruppen, verbunden mit dynamischen Kontrasten und Abstufungen, sukzessiver Klangaufbau („Zug um Zug“), simultane Klangschichtungen, solistischer Vortrag vor tremolierendem Klanghintergrund (Tremolo), Orgelpunktwirkungen, Generalpausen, markante Artikulation in ff-Akkordblöcken, legato-Spiel in pp-Klängen. Dies alles sind Kategorien, die Bruckner aus seinem schöpferischen Walten an der Orgel in sein symphonisches Gestalten übernahm. Die orgelgemäßen Strukturen haben wesentlichen Anteil am Gesamtbild seiner Symphonien, doch dürfen diese nicht pauschal als niedergeschriebene „Orgelimprovisationen“ missverstanden werden. Zwar halfen organistische Verfahrensweisen Bruckner, auf der Suche nach dem symphonischen Konzept zu gültigen Ergebnissen zu kommen, aber grundsätzlich setzte er sich von der Orgel ab und fand in genuin orchestralen Klangstrukturen die adäquate Möglichkeit, seine symphonischen Vorstellungen zu realisieren. Rein orchestrale, auf der Orgel kaum darzustellende Strukturen liegen etwa dort vor, wo in einer Gesangsgruppe nicht ein einzelnes klar gezeichnetes Hauptmotiv dominiert, sondern mehrere melodische Linien sich im Verbund als „Thema“ erweisen.

Das analytische Separieren einzelner Satzgebilde und das Eruieren der angewandten Satztechniken muss zusammenfassend die Integration der Teile in das Ganze herstellen. Fritz Wilhelm Paul Oeser betont in seinen Überlegungen zur Klangstruktur der Bruckner-Symphonien unter Rücksicht auf die darin waltende übergreifende symphonische Idee: „Nur das Ganze des Werkes selbst hat einen für sich bestimmbaren Gehalt, weil es die Objektivation eben dieses Gehaltes ist; dieses Ganze scheint noch durch die kleinsten Glieder des Strukturgefüges hindurch, und sein Gesetz muss sich noch in den untersten [Gliedern] nachweisen lassen. [...] es muss der Weg von den Einzelphänomenen zum nächsten Teilganzen, von diesem wieder zu dem übergreifenden Gesamtganzen beschritten werden.“ (Oeser, S. 17).

Literatur

ERWIN HORN

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 22.9.2017

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ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft