Gesangvereine

Die weltliche Vokalmusik großen Stils wurde im 19. Jahrhundert hauptsächlich von Laienchören (mit zunächst meist nur männlichen Mitgliedern) getragen. Das Männerchorwesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts stand wesentlich in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Umstrukturierung der Zeit: Die Wende vom aristokratischen zum bürgerlichen Zeitalter unterwarf auch das Konzert- und Musikleben einem deutlichen Wandel. Die Sangeskultur der emanzipierten Bürger stellte nicht nur musikalisch, sondern auch gesellschaftlich eine gewisse Macht dar, denn in dieser Sphäre verband sich eine ganz neue Pflege der Geselligkeit mit dem Kult vaterländischer Gefühle und Gedanken.

Entscheidend für die Entwicklung des Chorliedes wurde der Zusammenschluss von Musikliebhabern in Vereinen (Singverein, Musikverein, Singgesellschaft) – so 1801 in Würzburg, 1802 in Leipzig und 1804 in Münster. Stärkste Anregungen dazu gingen von Carl Friedrich Zelter (1758–1832) aus, der 1809 die Berliner Liedertafel gründete. Etwa zur selben Zeit entwickelte sich auch in der Schweiz durch Hans Georg Nägeli (1773–1836) eine breitere Pflege des Chorliedes. In Deutschland kam es in der Folgezeit zu zahlreichen Gründungen von Männergesangvereinen und Liedertafeln, etwa 1815 in Frankfurt an der Oder und Leipzig, 1816 in Tübingen, 1819 in Breslau und Magdeburg, 1823 in Hamburg, 1824 in Stuttgart und Ulm. Bereits 1827 wurde das erste schwäbische Liederfest in Plochingen (Württemberg) abgehalten. Die patriotischen Ideale hatten ihre Wirkung auch weit über die Grenzen des deutschsprachigen Raumes hinaus – zu Gesangvereinsgründungen kam es auch 1833 in Riga und Rom, 1834 in Lyon, 1835 in Philadelphia und v. a. in England (Großbritannien). Das erste deutsche Sängerfest 1845 in Würzburg wurde zur „deutsch-vaterländischen Volkssache“ (Brusniak, Sp. 791).

In Österreich setzte diese Entwicklung erst später und zunächst zögernd ein. Die deutsch-nationale Richtung der deutschen Vereine, „die Pest aus Deutschland“ (Brusniak, Sp. 798), wurde hier als suspekt angesehen, weshalb die Vereine in der Restaurationsepoche verboten wurden. Der älteste musikorientierte Verein der Monarchie wurde 1809 in Mies (Böhmen/CZ) gegründet, 1812 folgte die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (die jedoch kein Gesangverein ist). Mit der Gründung des Wiener Männergesang-Vereins 1843 setzte die Bewegung in Österreich vehement ein: Zu Vereinsgründungen kam es 1843 in Waidhofen an der Ybbs, 1845 mit der Liedertafel „Frohsinn“ in Linz und mit dem Männergesangverein in Bad Ischl, 1846 in Wiener Neustadt und Graz, 1847 in Salzburg, Wels und Klagenfurt sowie 1848 in Mödling. Nach der Revolution von 1848 konstituierten sich erneut zahlreiche Vereine, die viel zum musikalischen Leben beitrugen, im Laufe der Jahrzehnte weite Verbreitung fanden und eine Blütezeit erlebten. 1862 schlossen sich in Coburg 41 Vereine aus dem deutschen Sprachraum zum Deutschen Sängerbund zusammen.

Der Werdegang des Männergesangs und der gesellschaftlichen Singpflege im Allgemeinen vom volksmusikalischen chorischen Gemeinschaftserlebnis zur vaterländischen Volksbewegung spiegelt sich in der Literatur für Männerstimmen wider, die sich in unübersehbarer Fülle und unterschiedlichster Qualität sehr rasch ausbreitete. Die besten Dichter und Komponisten der Zeit setzten Maßstäbe, an denen sich Gelegenheitsdichter und Vereinskomponisten orientierten. In der Aneinanderreihung bildhafter Klischees, in denen gedankliche und genrehafte Details vermittelt wurden, offenbarten sich im negativen Sinn „biedermeierliche“ Züge. Auch Bruckner trug seinen Teil zu diesem Repertoire (Chormusik) bei und reagierte mit patriotischen Männerchorkompositionen auf die allgemeine politische Stimmung. Doch blieb weiterhin auch die Volksmusikpflege ein wesentlicher Schwerpunkt dieser Bewegung. Während die Männerchöre dem Chorlied verbunden blieben, wandte sich der gemischte Chor in zunehmendem Maße größeren Formen, wie Oratorium und Kantate, zu.

Literatur

ANDREA HARRANDT

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 22.9.2017

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