Großbritannien (Rezeption)

Das englische Publikum wurde zunächst auf Bruckner als Organist aufmerksam: 1871 nahm Bruckner als Repräsentant Österreichs an einer Serie von Konzerten an der neuinstallierten Orgel von Henry Willis in der Royal Albert Hall in London teil und spielte auch im Crystal Palace. Der Erfolg seiner Darbietungen führte zum Angebot einer Konzerttournee durch England, das Bruckner aber aus verschiedenen Gründen (z. B. Genehmigung eines Urlaubs bzw. einer Dienstfreistellung durch seine Wiener Arbeitgeber) nicht annehmen konnte.

Die Anerkennung Bruckners als Symphoniker ging langsam vor sich. Zu Lebzeiten des Komponisten dirigierte Hans Richter am 23.5.1887 die Siebente und am 29.6.1891 die Dritte Symphonie in London. Beim Birmingham Festival dirigierte er am 16.10.1903 das Te Deum. Bald danach, am 27.10.1903, leitete George Halford (1858–1933) eine Aufführung der Vierten Symphonie mit der Halford Concert Society in Birmingham. Erst mit der Tätigkeit Richters bei dem 1858 gegründeten Hallé Orchestra in Manchester kam es zu weiteren Aufführungen: die Siebente (11.2.1904), die Vierte (2.11.1905), die Dritte Symphonie (28.2.1907) und das Te Deum (12.3.1908). Henry Wood (1869–1944) führte am 15.10.1903 die Siebente in den neugegründeten Promenade Concerts in London auf. Mit dem 1904 gegründeten London Symphony Orchestra spielte er im selben Jahr die englische Erstaufführung der Achten Symphonie. In Manchester wurde die Bruckner-Tradition von Dirigenten wie Michael Balling (1866–1925), Sir John Barbirolli, Josef Krips und Heinz Unger (1895–1965) weitergeführt.

Bis 1960 wurden in Großbritannien Bruckner-Werke nur gelegentlich gespielt. In London sind für 1929–1937 insgesamt elf Aufführungen der Vierten, Sechsten, Siebenten, Achten und Neunten Symphonie nachweisbar. Dank der kritischen Schriften von Hans Ferdinand Redlich (1903–1968), Robert Simpson, Deryck Cooke und Hans-Hubert Schönzeler sowie dem Enthusiamus von Musikern wie Bryan Fairfax (1925–2014), der bereits 1963 die Symphonie in d‑Moll („Annullierte“) erstaufführte und 1964 das London Bruckner Festival leitete (mit Erstaufführungen des Psalm 112, der Missa solemnis, der Drei Orchesterstücke, des Marsch für Orchester in d-Moll, der Festkantate, der Symphonie in f‑Moll [„Studiensymphonie“], des Streichquartetts in c-Moll, der Zweiten Symphonie, des Ecce sacerdos und der Messe in f‑Moll), erlangte Bruckner steigende Aufmerksamkeit als Symphoniker. Schönzeler leitete auch am 2.9.1973 die Uraufführung der 1. Fassung der Achten Symphonie mit dem BBC-Orchester. Bruckners Symphonien wurden nun regelmäßig in den Konzertzentren aufgeführt, und durch die steigende Zahl von Plattenaufnahmen wurden seine Werke viel leichter verfügbar. Die geistlichen Chorwerke wurden weniger oft aufgeführt, jedoch zählen die Motetten und das Te Deum zum Standard-Repertoire. Im Frühjahr 1996 fand in London ein Bruckner-Zyklus (gekoppelt mit Werken Wolfgang Amadeus Mozarts) statt.

Bis 1996 gab es in Großbritannien noch verhältnismäßig wenig wissenschaftliches Interesse an Bruckner. Einen Startpunkt der intensiveren wissenschaftlichen Beschäftigung mit Bruckner markierte die Konferenz Perspectives on Anton Bruckner II (April 1996) an der University of Manchester. Das seit 1997 dreimal jährlich erscheinende The Bruckner Journal (herausgegeben 1997–2004 von Peter Palmer, 2005–2016 von Ken Ward und seit 2017 von Michael Cucka) fördert durch allgemeine und wissenschaftliche Artikel sowie Besprechungen von CDs, Konzerten und Büchern das Interesse an Bruckner als Mensch und Musiker. Die seit 1999 vom The Bruckner Journal organisierten Biennial Conferences, bei denen Brucknerianer aus Großbritannien, dem restlichen Europa und den USA Vorträge halten, wurden sowohl von Wissenschaftlern als auch Musikliebhabern gut besucht.

Heute haben viele britische Orchester, sowohl professionelle als auch semi-professionelle, zumindest eine Symphonie Bruckners in ihren jährlichen Konzertserien und spielen diese nicht nur in großen Städten, sondern auch in ländlichen Gebieten. Beispielsweise waren während des Edinburgh Festivals 2006 alle Symphonien Bruckners als „late-night concerts“ zu hören und bei den BBC Promenade Concerts im Juli 2009 wurde der selten gehörte Psalm 150 aufgeführt. Die Erstfassungen der Symphonien wurden zwar eingespielt, stehen in Konzerten aber eher selten am Programm.

Literatur

ANDREA HARRANDT, ALAN CRAWFORD HOWIE

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 30.9.2020

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