Schweiz (Rezeption)

Bruckners einzige Urlaubsreise führte ihn 1880 in die Schweiz, um die Bergwelt (Montblanc) und die Orgeln des Landes kennenzulernen.

Beschränkten sich die frühesten Aufführungen Bruckner‘scher Kompositionen auf Einzelsätze – drei Sätze der Siebenten Symphonie in Luzern unter Peter Fassbaender (1869–1920) am 21.11.1896, das Adagio der Fünften unter Alfred Volkland (1841–1905) in Basel am 3.12.1899, das Adagio des Streichquintetts in F-Dur am 13.4.1908 in St. Gallen – oder kleinere Chorwerke (Locus iste und Virga Jesse am 31.1.1903 durch den Häusermann‘schen Privatchor in Zürich), so erklangen ab 1903 auch großbesetzte Werke vollständig: in Zürich am 7.3.1903 wiederum durch den Häusermann‘schen Privatchor das Te Deum und am 21.3.1903 die Dritte Symphonie in einem Gastkonzert des Berliner Tonkünstler-Orchesters unter Richard Strauss. Es folgten die Achte Symphonie (29.11.1903) in Basel unter Hermann Suter (1870–1926), die Vierte (7.3.1904) in Genf unter Willy Rehberg (1863–1937) und die Neunte (15.1.1907) in Zürich unter Volkmar Andreae.

Die Rezensenten bemerkten, dass so „nachgeholt wird, was man […] beim Tode Bruckners, als alle größeren Konzertinstitute mit der ganzen oder teilweisen Aufführung einer seiner Schöpfungen sich seiner erinnerten, versäumte“ (Basler Nachrichten 2.12.1899), und bewarben die Werke „des genialen, leider bis jetzt bei uns nur dem Namen nach gekannten Anton Bruckner“ (Neue Zürcher Zeitung [NZZ] 5.2.1903). Publizistisch war den Erstaufführungen jedoch der Boden bereits bereitet: Schon 1886 bezeichnet etwa eine Buchrezension Bruckner implizit als Gipfelpunkt der Symphonik, wenn sie schreibt, Hermann Kretzschmars Führer durch den Konzertsaal folge dem „geschichtlichen Gang […] und schließt mit Brahms und Bruckner“ (NZZ 5.12.1886), und Auslandskorrespondenten berichteten von Bruckners 70. Geburtstag oder von Aufführungen in Frankfurt am Main oder in München. Nach Bruckners Tod erschienen biografische Abrisse und Anekdoten – u. a. ein Wiederabdruck der „Erinnerungen“ des Berliner Musikverlegers Gustav Bock ([1813–1863]; NZZ 20.10.1896) –, mitunter gezielt zur Vorbereitung einzelner Erstaufführungen, indem z. B. auf Bruckners „Kunst des Satzes“, aber auch auf „sein ganzes tiefreligiöses Wesen und naiv gläubiges Gemüt“ hingewiesen wurde (Basler Nachrichten 2.12.1899).

Auch die frühen Rezensionen selbst verzichteten selten auf biografische Bezugnahmen. Wiederkehrende Diskursmuster waren zudem die „unbarmherzige“ Länge und „erhabene Langeweile dieser Stücke“ (National-Zeitung 6.12.1899), ihr Mangel an „Geschlossenheit der Form“ und „eigentlicher Entwicklung“ (National-Zeitung 4.3.1913) – beides oft auch positiv gewendet als „Merkmale der meisten wahrhaft großen Kunstwerke“, weil „sich neue Formen erzwingend von unmeßbarer Weite“ (NZZ 4.4.1897). Die Parteienfrage zwischen Richard Wagner- und Johannes Brahms-Anhängern hingegen rückte schon bald in historische Distanz. Nicht selten begegnen dafür Bezugnahmen auf Franz Schubert, mit dem Bruckner u. a. die „österreichische Klangseligkeit“ (Basler Nachrichten 4.3.1913) teile.

In der Westschweiz förderte der Literat und Musikkritiker William Ritter (1867–1955), der an der Universität Wien 1888 und 1893 bei Bruckner Unterricht genommen hatte (Schüler), Bruckners Aufnahme durch erste französischsprachige Artikel. Zentren blieben die Deutschschweizer Städte, insbesondere Basel (H. Suter, Hans Münch [1893–1983]), Zürich (Andreae), Bern (Fritz Brun [1878–1959]), St. Gallen (Othmar Schoeck [1886–1957]) und Winterthur (Hermann Scherchen). In Luzern und in St. Gallen (Josef Gallus Scheel [1879–1946]) wurden ab 1913 auch erstmals die großen Messen gespielt; z. T. im Rahmen der Liturgie, dabei bisweilen – wie im Fall der Messe in f‑Moll in St. Gallen – als öffentliche Hauptprobe „am Abend vorher in mehr konzertartiger Weise“ (Schweizerische Musikzeitung 57 [1917], S. 307). Wichtige Exponenten der Pflege von Bruckners Vokalwerken waren überdies Otto Barblan ([1860–1943]; Genf), Josef Ivar Müller ([1892–1969]; Bern) und Johannes Fuchs ([1903–1999]; St. Gallen, Zürich). Konfessionelle Schranken scheinen die Rezeption der geistlichen Werke kaum behindert zu haben; so konnte 1928 die Messe in f‑Moll als Eröffnung des Eidgenössischen Sängerfestes im protestantischen Lausanne dienen.

Der erste komplette Symphonien-Zyklus unter Andreae in der Zürcher Konzertsaison 1927/28 markierte zugleich den Abschluss der ersten Bruckner-Aneignung. Bis 1926 wurden alle Symphonien, bis 1930 auch die letzten Vokalwerke erstaufgeführt; gleichzeitig wurden 1926 in Bern und Zürich Bruckner-Gesellschaften gegründet, und 1936 organisierte Zürich (1952 dann auch Basel und 1955 Bern) ein Internationales Brucknerfest (Brucknerfeste und -feiern). Damit einher ging ein Wandel des Brucknerbilds, und so sah Willi Schuh (1900–1986) in einem Radiovortrag (23.6.1936) die „beispiellose Verkennung“ Bruckners seiner Anerkennung als einer „der grössten musikalischen Mächte der Weltgeschichte“ gewichen. In Schuhs Einführung schlagen sich zudem deutlich die Anschauungen Ernst Kurths nieder, der seit 1920 an der Berner Universität lehrte und 1925 seine einflussreiche Bruckner-Monografie veröffentlichte. An der Universität Basel las Jacques Handschin (1886–1955) über „Brahms und Bruckner“ (1925) und „Die Form bei A. Bruckner“ (1931).

Von da an scheint Bruckner im Repertoire etabliert; so verstrich z. B. in Zürich seit 1920 keine Saison ohne die Aufführung eines seiner Werke, die insbesondere Andreae und später Rudolf Kempe systematisch pflegten. Neben den genannten Städten sowie Genf (Carl Schuricht) bildeten vor allem auch die Internationalen Musikfestwochen in Luzern (seit 2001 Lucerne Festival) einen Bruckner-Schwerpunkt. Bruckners Bedeutung schlug sich in jüngster Zeit auch in drei Gesamteinspielungsprojekten des Orchestre de la Suisse Romande (Marek Janowski), von Mario Venzago ([* 1948]; u. a. mit dem Berner und dem Basler Sinfonieorchester) und des Lucerne Festival Orchestra (Claudio Abbado) nieder, die in je unterschiedlicher Weise Gebrauch von der Neuen Gesamtausgabe machen.

Literatur

FELIX MICHEL, HUGO STEINMANN

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 30.9.2020

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Abbildungen

Abbildung 1: Neue Zeitschrift für Musik 103 (1936) H. 8, S. 952/1

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