Neudeutsche Schule

Bezeichnung einer musikalischen „Fortschritts-Bewegung“ im 19. Jahrhundert. Der Begriff wurde geprägt von Franz Brendel (1811–1868) anlässlich der Ersten Tonkünstler-Versammlung in Leipzig 1859 zur Feier des 25‑jährigen Bestehens der Neuen Zeitschrift für Musik, deren Herausgeber er seit 1845 war. Brendel wollte den Begriff v. a. auf die durch Franz Liszt während dessen Weimarer Hofkapellmeisterzeit (1848–1861) propagierten neuen musikalischen Gattungen bezogen wissen, die seit den Diskussionen um die „Zukunftsmusik“ Richard Wagners öffentliche Aufmerksamkeit erregten: das Musikdrama (R. Wagner), die Symphonische Dichtung und die Programmsymphonie (Liszt, Hector Berlioz). Als Charakteristika der Neudeutschen gelten die konsequente Einführung harmonischer und formaler Neuerungen („Fortschritt“), die Gleichberechtigung von Wort und Musik (Musikdrama), die Vorrangigkeit einer poetischen Idee bzw. Voranstellung eines literarischen Programms in der Orchestermusik (Programmsymphonie, Symphonische Dichtung). Eine feste institutionelle Basis erhielt die Neudeutsche Schule aber erst durch den 1859 konzipierten und 1861 in Weimar gegründeten Allgemeinen Deutschen Musikverein (ADMV), als dessen Vereinsorgan die Neue Zeitschrift für Musik fungierte. Die Kontroversen um den musikalischen „Fortschritt“ erhielten 1860 zusätzliche Schärfe durch ein von Johannes Brahms mitunterzeichnetes Gegenmanifest. Der damit ins Leben gerufene Parteienstreit zwischen „Neutönern“ und „Konservativen“ dominierte die Musikgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts und war auch für Bruckners Wiener Zeit prägend.

In Bruckners Neudeutschen-Rezeption sind deutlich zwei getrennte Phasen zu beobachten, die auch zwei Entwicklungsphasen der neudeutschen Bewegung selbst entsprechen: Bruckner war bereits in Linz durch Ignaz Dorn mit Werken der Neudeutschen Schule, darunter v. a. Wagners und Liszts, bekannt gemacht worden. Dorn, der Bruckner 1863 mit Wagners Tannhäuser, wahrscheinlich auch mit Berlioz‘ Symphonie fantastique und dessen Instrumentationslehre bekannt machte und mit ihm Liszts Eine Faust-Symphonie studierte, war als Komponist zweifellos ein Neudeutscher der ersten Stunde und fungierte als erster Vermittler des musikalischen „Fortschritts“ in dessen erster, durch Liszt dominierten Weimarer Phase (s. Dorns Characteristische Symphonie „Labyrinth-Bilder“). Im Wien der 1870er Jahre wurde Bruckner der musikalischen „Fortschritts-Partei“ zugerechnet (Hauptvertreter der Gegenpartei waren Brahms und Eduard Hanslick), was hauptsächlich der Tätigkeit des Bruckner-Kreises um die Brüder Franz Schalk und Josef Schalk zu verdanken ist, aber von Bruckners Seite durch persönliche Zeugnisse (z. B. geplante Widmung der Zweiten Symphonie an Liszt und Widmung der Dritten an Wagner) erhärtet wird. Bruckner geriet hier ins Fahrwasser der zweiten Phase des musikalischen „Fortschritts“ in dessen spezifisch Wiener Ausprägung mit seinem ideenpolitischen Umfeld und wissenssoziologischen Komponenten. In Wien hatten sich allerdings die inneren Schwergewichte des musikalischen „Fortschritts“ wesentlich verschoben: Wagner und die Faszination, die von Bayreuth ausging, hatte die „Themenführerschaft“ übernommen; Liszt, der in der deutschen Öffentlichkeit kaum noch in Erscheinung trat, war weit in den Hintergrund getreten. Der reife Bruckner ist ideenpolitisch eher als „komponierender Wagnerianer“ zu bezeichnen, denn als Neudeutscher Liszt‘scher Prägung.

Aus musikhistorischer Sicht gilt die Zugehörigkeit Bruckners zur Neudeutschen Schule heute als fraglich. Bruckners Werke weisen einerseits zahlreiche Reflexe aus Werken von Berlioz, Liszt und Wagner auf. Einen Sonderstatus nehmen die Allusionen an Wagner‘sche Werke ein, v. a. in der Dritten Symphonie, die geradezu als „Wagner-Symphonie“ gilt, weil der Kopfsatz in der 1. Fassung tatsächlich eine Reihe von musikalischen Verweisen als Hommage an das Idol enthält (Zitate).

Trotzdem sind es bei Bruckner eine Reihe von entscheidenden Charakteristika und Auffälligkeiten, die dem Bild eines Neudeutschen krass widersprechen: Bruckner hat kein Werk der neudeutschen Kerngattungen, weder eine Symphonische Dichtung Liszt‘scher Prägung, noch eine Programmsymphonie à la Berlioz, auch keine charakteristische Symphonie in der Art der Labyrinth-Bilder seines Linzer Lehrers Dorn, geschrieben, sondern „reine“ Instrumentalsymphonien, die aus der Sicht der neudeutschen Schule nicht nur als überwundener Standpunkt gelten müssten, sondern Bruckner erweist sich damit sogar aus der Sicht des Späteren geradezu als ein Mitbegründer eines „zweiten Zeitalters“ der Symphonie.

Es existieren zwar programmatische Skizzen oder Erläuterungen zu einzelnen Passagen von ihnen, die Bruckner zumeist nachträglich geliefert hat: zum Kopfsatz der Vierten, zur Achten Symphonie, oder zum Seitensatz des 4. Satzes der Dritten Symphonie; aber sie bleiben angesichts der ungeheuren Kompaktheit seiner Musik punktuell und peripher. Sie begründen keine „Erzählung“, die das gesamte Werk umfasst. Auch findet man in Bruckners Symphonien keinerlei Anhaltspunkte für Formverschachtelungen und andere Experimente, wie sie Liszts berühmte Klaviersonate h-Moll oder auch die Faustsymphonie, die Bruckner ja nachweislich bei Dorn studiert hatte, aufweisen.

Nicht nur passte die Person Bruckners mit ihrer „österreichischen“ Sozialisation und ihrem sozialen Habitus und auch ihrem Lebensalter nicht so recht in die Gruppe der Wiener Neudeutschen und Wagner-Anhänger, die ja – wie Hugo Wolf, Gustav Mahler oder die Brüder Schalk – der Generation der um 1860 Geborenen angehören und teilweise tatsächlich seine Schüler gewesen sind. Bruckner scheinen die intellektuellen Komponenten der Bewegung, an der er teilnahm, auch gänzlich fremd geblieben zu sein. Nach glaubhaften Schilderungen seiner Zeitgenossen soll er nicht fähig oder willens gewesen sein, Liszts Tasso oder Wagners Tristan anders denn als reine Orchesterstücke, unabhängig vom poetischen oder dramatischen Zusammenhang, anzuhören.

Der Sache nach also scheint der neudeutsche „Einschlag“ bei Bruckner auf Handwerklich-Technisches hinauszulaufen, etwa dahingehend, dass der symphonische Anspruch es erfordere, auch technisch auf dem neuesten Stand zu sein, insbesondere im Bereich der Harmonik und der Instrumentation.

Literatur

GERHARD J. WINKLER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 1.9.2017

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Abbildung 1: Franz Brendel, in: Neue Zeitschrift für Musik 104 (1937) H. 3, S. 268/2

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