Kanon
Den Abschluss der Studien bei Simon Sechter in Generalbass und Harmonielehre, Präludieren und Themendurchführung an der Orgel 1855–1858, einfachem Kontrapunkt und strengem Satz bis 1859, doppeltem bis vierfachem Kontrapunkt bis 1860 und zuletzt Kanon und Fuge bis 1861 (Zeugnis vom 26.3.1861) markierte die Lehrbefähigungsprüfung für „Harmonielehre und Kontrapunkt an Konservatorien“ vom 21.11.1861 in der Piaristenkirche in Wien. Sie fiel in erster Linie durch Bruckners „umfassendste[n] Studien im Kontrapunkt und eine gründliche Kenntniß des strengen Stiles in seinen verschiedenen Formen“ (Göll.-A. 3/1, S. 117) in Bezug auf die vor der praktischen Prüfung eingereichten Arbeiten und die gekonnte improvisierte Durchführung „eigener und aufgegebener Themen“ (Göll.-A. 3/1, S. 118) an der Orgel, lt. Ernst Kurth die „Stegreifverarbeitung einer Doppelfuge“ (Kurth, Bd. 1, S. 102), sehr erfolgreich aus.
Sieben Jahre später schließlich erhielt Bruckner den Lehrauftrag als Professor für Harmonielehre, Kontrapunkt und Orgelspiel am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und galt somit als Spezialist insbesondere für sämtliche Bereiche des Kontrapunkts wie Kanon und Fuge in der Nachfolge seines Lehrers Sechter. Die gleichen Lehrinhalte vermittelte Bruckner ab Mitte der 1870er Jahre auch als Lektor an der Universität Wien sowie im Privatunterricht.
Bei so viel angehäuftem Fachwissen gerade auf dem Spezialgebiet des Kontrapunkts verwundert es nicht, dass Bruckner auch auf kompositorischem Gebiet als kontrapunktisches Genie und Meister der Fuge gefeiert wurde. Von Kanon ist hingegen bei Bruckner eher selten die Rede.
Der wohl deutlichste Bezug zur kanonischen Setzweise findet sich in Bruckners Messe in e‑Moll. Die einige Monate nach Vollendung der Ersten Symphonie (14.4.1866 Linzer Fassung) zwischen August und November entstandene Messe krönt wie die Messe in d‑Moll das Gloria mit einer Schlussfuge, während sich der Kyrie-Satz durch freier gehaltene Imitationen dem Fugensatz nur nähert. Die bereits in der Messe in d‑Moll beobachtete Tendenz, auf die Schlussfuge zur letzten Textzeile „Et vitam venturi saeculi. Amen“ des Credo-Satzes zu verzichten, erhärtet sich in der Messe in e‑Moll. Denn bis auf eine Imitation der Frauenstimmen durch die Männerstimmen finden sich keine Fugierungsrestbestände in der Schlussgestaltung des Credos. Stattdessen hat Bruckner die ursprüngliche traditionelle Schlussfugenidee des Credo-Satzes auf die Gestaltung des folgenden Satzes übertragen bzw. zeitlich verschoben. Das Sanctus beginnt daher mit einem imitatorisch-kanonisch gesetzten Stimmengeflecht. Das Agnus Dei schließlich rekurriert wie in der Messe in d‑Moll zurück zu Strukturen des Kyrie und somit auch zu seinem imitatorischen Satz.
Gerade die Verlagerung und Ausweitung des imitatorischen Satzes auf für die klassische Tradition eher untypischen Bereiche des Messzyklus lassen Parallelen zu dem kanonisierten Vorbild der Palestrina-Messe erkennen, zumal die aufführungs-bedingte Eingrenzung des instrumentalen Anteils auf Bläserbesetzung ohne Flöten sich ohnehin von dem symphonischen Stil der Messe in d‑Moll wieder abwendet und der Vokalmusik der römischen und venezianischen Schulen des 16. Jahrhunderts nähert, wie sie eben v. a. durch Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594), Andrea Gabrieli (1532/33–1585), Giovanni Gabrieli (1557–1612) u. a. repräsentiert werden. Bruckners Interesse für die Vokalpolyphonie der Spätrenaissance und des Frühbarock wurde wohl schon in St. Florian beim Studium von Friedrich Wilhelm Marpurgs (1718–1795) Abhandlung von der Fuge (1753) geweckt und zeigt gerade auch im Bereich des kontrapunktisch-imitatorischen Satzes seine Früchte, wie u. a. im Afferentur, im Psalm 112 und in der Messe in e‑Moll. So steigert Bruckner wie in der Motette Afferentur in alter Weise die einzelnen Textzeilen des Kyrie der Messe in e‑Moll von der Einstimmigkeit über eher frei gehaltene Imitationen zu mehrstimmiger homophoner Höhepunktstruktur. Das Sanctus beginnt in der typischen Fugentaktart Alla breve mit einer 25-taktigen kontrapunktisch-imitatorischen Steigerungsentwicklung zu einem ersten homophonen Gipfel auf dem Dominantseptakkord über d in T. 26ff. („Dominus Deus Sabaoth“). Der in Engführungen imitierte Satzbeginn des Sanctus wird vielfach, wohl auch durch die eindeutige strukturelle Nähe zum Palestrinastil, als zweistimmiger Quintkanon mit diversen kontrapunktischen Gegenstimmen bezeichnet. Das veranlasst zu einem terminologisch-analytischen Exkurs, der die Schwierigkeit der Differenzierung zwischen ohnehin verwandten musikalischen Setzweisen wie Fuge und Kanon in dem meist freien Satz des 19. Jahrhunderts aufzeigen soll.
Die Sichtung des Bruckner‘schen Gesamtwerkes bezüglich Fugierung erweist sich allein schon aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen in den vorhandenen Analysen als komplex. Fuge, Fugato, freie und strenge Fugierung, Kanon, freie und strenge Imitation sind die Begriffe, die in den Analysen Verwendung finden und das oft in sehr freier Weise, so dass die gleiche Stelle im Notentext von den verschiedenen Autoren auch unterschiedlich in der Analyse bezeichnet sein kann. Werden die Begriffe imitatorisch, kanonisch und fugiert synonym für Satzstrukturbezeichnungen verwendet, so ist dies bereits ein Hinweis auf Bruckners Fugensatz, der offensichtlich nicht immer als solcher eindeutig zu erkennen ist bzw. sich in seiner (freien) Struktur vom Herkömmlich-Traditionellen abhebt. Die imitierende Setzweise ist als herausragendes Charakteristikum seiner polyphonen Musik an erster Stelle zu nennen. Das Aufbauprinzip der sukzessiven Nachahmung (eines Themas, Motivs oder allgemein) motivisch-thematischen Materials einer Stimme in mindestens einer weiteren findet seine konsequente und strengste Anwendung im Kanon. Die Fuge „imitirt wie der Kanon aber nur periodisch [...]. Die Imitation in der Fuge kann nicht mehr so genau sein wie im Canon. [...] (kleine Veränderungen sind bei der Fuge immer)“ (Flotzinger, S. 428f.). In dieser Weise charakterisierte Bruckner selbst in seinen Vorlesungen über Harmonielehre und Kontrapunkt an der Universität Wien Gemeinsamkeit und Unterschied zwischen Kanon und Fuge. So findet sich bei der Fuge die imitierende Satztechnik beim erstmaligen Gang des Themas durch die Stimmen in der sogenannten Fugen-Exposition und den variierten Wiederholungen dieses Nachahmungsvorgangs in den weiteren Durchführungen, die allerdings häufig durch von strenger Imitation des Themas befreite Zwischenspiele voneinander getrennt sind. In der durch die einzelnen (in der Anzahl festgesetzten) Stimmen geführten Imitation des Themas, die gewöhnlich im Quintverhältnis zwischen der das Thema vorgebenden tonikalen Stimme (dux) und der nachahmenden dominantischen Stimme (comes) erfolgt, wird die Themenstruktur ohne große Abwandlung nachgeahmt. Kontrapunktische Themen-Verarbeitungstechniken wie Umkehrung, Diminution, Augmentation, Krebs, Engführung etc. sind hier ebenso wie im Kanon anzutreffen. Jedoch die zur ersten Imitation des Themas (1. comes) kontrapunktierende Gegenstimme, die als unmittelbare Fortspinnung aus dem Thema (1. dux) erwächst, wird häufig, aber nicht in jedem Fall imitiert, so dass bereits nach dem 1. comes die streng kanonisch-imitatorische Stimmenführung zu einem Ende kommen kann. Wird die Gegenstimme als Kontrasubjekt beibehalten, beginnt der gegenüber dem Kanon erkennbare freiere Imitationsaufbau der Fuge frühestens nach der ersten Imitation des Kontrasubjektes in der comes-Stimme. Die weitere Fugenentwicklung weicht aber dann von der kontinuierlichen Nachahmung des Kanons deutlich ab und kehrt meistens nur stellenweise wieder zu ihr zurück, eben „periodisch“ (im Sinne von episodisch), wie Bruckner in seiner Vorlesung vortrug. Einen seltenen Sonderfall stellt die kanonische Fuge dar, die das Prinzip der Quintbeantwortung mit strenger kanonischer Stimmführung kombiniert. Zu erwähnen ist auch die Permutationsfuge, die ihre Kontrapunkte konsequent beibehält und ihr Gefüge durch ständigen Stimmtausch erhält, was bei Bruckner in Ansätzen vorkommt. Erscheint nun der Fugensatz als integrierter Bestandteil eines größeren Ganzen im Sinne einer Fugen- oder Fugatostrecke in einem satztechnisch sonst anders gearteten musikalischen Zusammenhang, so kann es durch die Kürze der Imitationsphase zu Mischformen kommen, die überschneidend als fugiert und auch kanonisch-imitiert zu bezeichnen sind. Denn der klare Unterschied zwischen Kanon und Fuge zeigt sich häufig erst nach fortgeschrittener Entwicklung. Außerdem kann es durch Einwirkung des satztechnischen Umfeldes zu sehr freien Fugierungsformen kommen, die sich z. B. an die Quintbeantwortung nicht mehr halten oder kontrapunktische Imitation und dem Fugensatz fremde Mittel der Verarbeitung, also motivisch-thematische Arbeit, kombinieren. Im Falle des Imitationssatzes im Sanctus der Bruckner‘schen Messe in e‑Moll wird die zugrundeliegende Themengestalt exakt in Engführung imitiert und das Engführungspaar ebenso in der Grundgestalt unverändert durch die Stimmen geführt. Die Fortspinnung zeigt aber eine freiere Handhabung und lässt keine streng-kanonische Stimmführung mehr erkennen. Insofern wird, um Bruckners Worte aufzugreifen, nur periodisch imitiert, was für die Umschreibung des Imitationsvorgangs im Sanctus mit Fugierung bzw. Fugato einer mit sich selbst enggeführten Themengestalt sprechen würde. Neben der Analogie zur Fugenexposition der Gloria-Fuge kann u. a. auch auf die ebenfalls in paarweisen Engführungen gesetzte Fugenexposition in Bruckners Magnificat von 1852 verwiesen werden. Ein definitiver Bruckner-Kanon hat sich allerdings in dem Erinnerungsbericht seines Schülers Friedrich Klose erhalten („Heut kommt ja Freund Klose zum Gause“). Er ist als unendlicher Kanon im Privatunterricht 1889 entstanden. Dem vierstimmigen Imitationsaufbau mit der Einsatzfolge vom unteren zum oberen Stimmenbereich ist der Text „Heut kommt ja Freund Klose zu Gause und geht nach der Jause nach Hause“ unterlegt.
Literatur
- Friedrich Wilhelm Marpurg, Abhandlung von der Fuge nach den Grundsätzen und Beispielen der besten in- und ausländischen Meister. Neu bearbeitet mit erläuternden Anmerkungen und Beispielen vermehrt von Simon Sechter. 2 Bde. Wien [1843]
- Ernst Kurth, Bruckner. 2 Bde. Berlin 1925, bes. Bd. 1, S. 102
- Paul Mies, Der Kanon im mehrsätzigen klassischen Werk, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 8 (1925/26) H. 1, S. 10–23
- Friedrich Klose, Meine Lehrjahre bei Bruckner. Erinnerungen und Betrachtungen (Deutsche Musikbücherei 61). Regensburg 1927, S. 152f.
- Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 3/1, S. 114–118
- Joseph Müller-Blattau, Geschichte der Fuge. Mit einem Notenanhang und einer Thementafel. 3. erw. Aufl. Kassel u. a. 1963
- Bruckner und ZenettiElisabeth Maier/Franz Zamazal, Anton Bruckner und Leopold von Zenetti (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 3). Graz 1980, S. 144
- Rudolf Flotzinger, Rafael Loidols Theoriekolleg bei Bruckner 1879/80, in: Bruckner-Studien 1975Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Studien. Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 150. Geburtstag von Anton Bruckner (Veröffentlichungen der Kommission für Musikforschung/Philosophisch-Historische Klasse 16). Wien 1975, S. 379–431
- Rainer Boss, Gestalt und Funktion von Fuge und Fugato bei Anton Bruckner. Tutzing 1997