Musikwissenschaft

Nachdem eine theoretische Auseinandersetzung mit Musik an Universitäten bereits seit dem Mittelalter im Rahmen der artes liberales stattgefunden hatte, etablierte sich das Fach Musikwissenschaft als universitäre Disziplin unter geänderten Voraussetzungen neuerlich im 19. Jahrhundert. Für Wien bzw. Österreich ist dieser Neubeginn mit Eduard Hanslick anzusetzen, der sich mit seiner 1854 erschienenen musikästhetischen Schrift Vom Musikalisch-Schönen 1856 an der  Universität Wien habilitierte und in weiterer Folge 1861 außerordentlicher und 1870 ordentlicher Professor für Geschichte und Ästhetik der Tonkunst wurde. Hanslick hatte von der seit 1848 vorangetriebenen Universitätsreform profitiert, die das in Preußen bereits etablierte Humboldtsche Wissenschaftsideal einer freien Wissenschaft sowie der Einheit von Forschung und Lehre (anstelle vorgeschriebener Lehrbücher) auch in  Österreich umsetzte. Forschung meinte fortan eine prinzipiell nicht abzuschließende Suche nach Wahrheit.

Für Hanslick bedeutete dies eine vom Kunstobjekt ausgehende Musikwissenschaft, die nach dem Vorbild der Naturwissenschaften Gesetze durch Induktion gewinnen will und deren Ergebnisse überprüfbar sind. Unter diesen Voraussetzungen beschäftigte er sich mit dem Begriff des Schönen in der Musik und bearbeitete während seiner Zeit an der Universität sein Buch in zehn weiteren Auflagen, legte aber keine neue Arbeit auf diesem Gebiet vor, sondern wandte sich vermehrt der Musikgeschichte zu und veröffentlichte 1869 seine Geschichte des Concertwesens in Wien. Bei seinen Vorlesungen überwogen ohnehin musikhistorische Themen wie „Geschichte der Musik seit Beethoven“ u. ä. Hier floss seine reiche Erfahrung als  Musikkritiker ein, eine Tätigkeit, die nach wie vor den größten Teil seiner Zeit in Anspruch nahm. Bedenkt man seine Pioniertat, das Fach Musikwissenschaft an der Universität etabliert zu haben, wofür er als persönliche Eignung nach seiner akademischen Ausbildung als Jurist eine Habilitationsschrift und eine unbestrittene Kenntnis der neueren Musikgeschichte aufzuweisen hatte, so wird seine ablehnende Haltung gegenüber dem Ansinnen Rudolf Weinwurms und  Bruckners, eine Professur oder Lehrstelle für Gesang und Harmonielehre (Weinwurm) bzw. Komposition oder Musiktheorie (Bruckner) an der Wiener Universität zu erhalten, mehr als verständlich. Eine höhere praktische Musikausbildung hatte und hat bis heute an allgemeinen österreichischen Universitäten keine Tradition. Sie war Aufgabe der  Konservatorien (heute Musikuniversitäten). Weinwurm und Bruckner wurden schließlich Lektoren. Der Besuch ihrer Kurse spielte im Rahmen eines wissenschaftlichen Studienabschlusses keine Rolle, sondern sie galten als „Fertigkeiten“ wie Stenografie, Turnen oder Fechten, deren Erlernung als für Studierende nützlich angeboten wurde. Während Bruckners Zeit an der Universität lehrten neben Hanslick noch sein Schüler Guido Adler (er las als Privatdozent von 1881–1886 quasi komplementär zu Hanslick über ältere Musikgeschichte), Max Dietz (1857–1928) und Heinrich Rietsch (1860–1927). 1885 wurde Adler außerordentlicher Professor in Prag, wo 1869–1871 bereits August Wilhelm Ambros, dessen mehrbändige, ab 1862 erscheinende Geschichte der Musik zu den großen musikhistoriographischen Leistungen des 19. Jahrhunderts zählt, außerordentlicher Professor gewesen war. Adlers Nachfolger in Prag wurde 1900 Rietsch.

1898 trat Adler als Professor für Theorie und Geschichte der Musik Hanslicks Nachfolge an der Universität Wien an. Auch er zielte auf das Kunstwerk als zentrales Objekt der Forschung, über das nach dem Vorbild der Naturwissenschaften durch Vergleich gesetzähnliche Aussagen getroffen werden können. Bereits 1885 hatte er eine bis heute diskutierte Programmschrift (s. Lit.) vorgelegt, die die ganze Breite der Musikwissenschaft, ihre Methoden und Aufgaben darlegte. Stand bei Hanslick die Erkenntnis des Schönen im Vordergrund, so war für Adler die Stilanalyse die Hauptaufgabe der Musikwissenschaft, deren Basis eine umfangreiche Quellenforschung, -kritik und -edition bilden sollte. Zu diesem Zweck hatte er bereits 1893 die Denkmäler der Tonkunst in Österreich gegründet. Für diese benötigte er einen Stab an Mitarbeitern, die zunehmend von ihm selbst ausgebildet wurden. Während Hanslick offensichtlich kein Interesse daran hatte, die Musikwissenschaft an der Universität über seine Lehrkanzel hinaus zu institutionalisieren und ‚Schule bildend‘ zu wirken – er hatte nur wenige Studierende, die bei ihm promovierten (Adler 1880, Robert Hirschfeld 1882, Dietz 1883, Felix von Kraus 1894) –, wurde unter Adler die ursprüngliche Lehrkanzel zu einem führenden und international hoch geachteten Institut (mit eigenen Räumlichkeiten, eigener Bibliothek, Assistenten etc.) ausgebaut. Einige seiner ehemaligen Studenten (Egon Wellesz, Ernst Kurth, Knud Jeppesen [1892–1974], Wilhelm Fischer [1886–1962], Rudolf von Ficker [1886–1954]) wurden bedeutende Vertreter des Fachs oder wie Alfred Orel einflussreiche Vertreter innerhalb der beginnenden Bruckner-Forschung.

Die in Adlers Grundsatztext bereits 1885 vorgesehenen Gebiete der systematischen und vergleichenden Musikwissenschaft wurden nach und nach auf universitärem Boden etabliert: 1897 habilitierte sich Richard Wallaschek (1860–1917) an der Universität Wien für Psychologie und Ästhetik der Tonkunst, 1908 wurde er außerordentlicher Professor. In dieser Eigenschaft folgte ihm 1920 Robert Lach (1874–1958), wobei die Denomination des Extraordinariates auf „vergleichende Musikwissenschaft, Musikpsychologie und Ästhetik der Tonkunst“ erweitert wurde. Lach wurde 1927 Adlers Nachfolger.

Bereits vor, aber auch nach der Etablierung der Musikwissenschaft an den Universitäten (in Graz habilitierte sich 1872 Friedrich von Hausegger, in Innsbruck 1920 Ficker) gab es beachtliche Leistungen außeruniversitärer Forschung. Raphael Georg Kiesewetter (1773–1850) wurde 1849 sogar korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Neben ihm sind für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts folgende Sammler und Forscher zu nennen: Maximilian Stadler (1749–1833), Simon Molitor (1766–1848), Anton Schmid (1787–1857), Franz Sales Kandler (1792–1831) und Aloys Fuchs (1799–1853). Über die Jahrhundertmitte hinaus reicht das Wirken von Ludwig Ritter von Köchel (1800–1877, Werkverzeichnisse zu Wolfgang Amadeus Mozart und Johann Joseph Fux [1659/60–1741]), Gustav Nottebohm (1817–1882, Arbeiten zu Ludwig van Beethoven), Carl Ferdinand Pohl (1819–1887, Josef Haydn, Mozart), Eusebius Mandyczewski (1857–1929, edierte u. a. Haydn, Beethoven, Franz Schubert, Johannes Brahms), Hirschfeld und Josef (Josip) Mantuani (1860–1933, Pionier der Musikwissenschaft in Slowenien, hörte 1891/92 Bruckner an der Universität Wien).

Literatur
  • Guido Adler, Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft, in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 1 (1885), S. 5–20.
  • Theophil Antonicek, Wagner, Bruckner und die Wiener Musikwissenschaft, in: Bruckner Symposion 1984, S. 71–79.
  • Theophil Antonicek, Die Anfänge der Musikwissenschaft in Österreich, in: [Kat.] MusikJahrhundert Wien 1797–1897. Ausstellung der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien 1997, S. 46–49.
  • Kurt Blaukopf, Pioniere empiristischer Musikforschung. Österreich und Böhmen als Wiege der modernen Kunstsoziologie (Wissenschaftliche Weltauffassung und Kunst 1), Wien 1995.
  • Barbara Boisits, Ästhetik versus Historie? Eduard Hanslicks und Guido Adlers Auffassung von Musikwissenschaft im Lichte zeitgenössischer Theorienbildung, in: Barbara Boisits und Peter Stachel (Hgg.), Das Ende der Eindeutigkeit. Zur Frage des Pluralismus in Moderne und Postmoderne (Studien zur Moderne 13), Wien 2000, S. 98–108.
  • Barbara Boisits, Wissenschaft in Österreich und Musik als ihr Gegenstand zur Zeit Bruckners, in: Bruckner-Tagung 2001Andrea Harrandt/Elisabeth Maier/Erich Wolfgang Partsch (Hg.), Bruckner-Tagung Gmunden 2001. Anton Bruckner zwischen Idolatrie und Ideologie. Zur Geschichte der Bruckner-Forschung. Kammerhofmuseum, 4.–7. Oktober 2001. Bericht (Bruckner-Vorträge). Wien 2004, S. 31-40.
  • Andrea Singer, Hörer-Statistik zu Hanslicks musikgeschichtlichen Vorlesungen an der Universität Wien, in: Alexander Wilfing, Christoph Landerer und Meike Albrecht-Wilfing (Hgg.), Hanslick im Kontext / Hanslick in Context. Perspektiven auf die Ästhetik, Musikkritik und das historische Umfeld von Eduard Hanslick / Perspectives on the Aesthetics, Musical Criticism, and Historical Setting of Eduard Hanslick, Wien 2020, S. 231–249.
  • Dietmar Strauß, Vom Kaffeehaus zum Katheder. Hanslicks Musikfeuilletons in der „Presse“ und das Studium der Musikgeschichte, in: Eduard Hanslick, Sämtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I, 3: Aufsätze und Rezensionen 1855–1856, hrsg. und kommentiert von Dietmar Strauß, Wien-Köln-Weimar 1995, S. 333–369.
  • Rudolf Flotzinger, Art. „Musikwissenschaft“, in: https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_M/Musikwissenschaft.xml [10.11.2021]

BARBARA BOISITS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 16.11.2021

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