Den Haag
Residenzstadt sowie Regierungs- und Parlamentssitz der Niederlande, zugleich Hauptstadt der Provinz Zuid-Holland. Sitz des Internationalen Gerichtshofes; u. a. Königliches Musikkonservatorium. 1889: 140.000, 2019: ca. 537.000 EW.
Schon lange vor der Gründung des Residentie Orkest (1904) gab es in der Stadt ein blühendes Musikleben. Ab 1815 wurden symphonische Konzerte von der Gesellschaft Concert Harmonica organisiert, die 1821 in Concert Diligentia umbenannt wurde. 1860–1886 leitete der Komponist und Dirigent Johannes Verhulst (1816–1891) diese Gesellschaft. Am 4.2.1885 dirigierte er beim 5. Diligentia Concert die niederländische Erstaufführung der Dritten Symphonie. Nachdem Verhulst immer konservativer wurde und kategorisch die Musik Richard Wagners und Franz Liszts ablehnte, wurde Richard Hol (1825–1904) gebeten, moderne Musik (Neudeutsche Schule) in den Paria-Konzerten zu leiten. Hol war es auch, der Bruckner-Symphonien in Den Haag, später mit dem Concertgebouw Orkest, aufführte. Am 17.3.1886 erklang erneut die Dritte, bald nach Bruckners Tod, am 8.12.1897 die Vierte Symphonie, die Willem Mengelberg (1871–1951) am 11.11.1897 in Amsterdam erstaufgeführt hatte. Nach der Gründung des Residentie Orkest gab es in Den Haag bald eine Bruckner-Tradition, die von mehreren Dirigenten lebendig gehalten wurde. Peter van Anrooy (1879–1954) leitete 1921–1931 die Dritte, Fünfte, Siebente, Achte, Neunte und Zweite Symphonie; nach dem Zweiten Weltkrieg führten Willem van Otterloo (1907–1978) und Hans Vonk Bruckners Werke auf.
Die niederländische Erstaufführung der Dritten Symphonie in Den Haag ist Wilhelmus Ludovicus van Meurs (1853–1911) zu verdanken, hauptberuflich Lehrer am Gymnasium Haganum (Altphilologe), in seiner Freizeit im Vorstand und als Bibliothekar der Gesellschaft Concert Diligentia tätig. Als Wagnerianer entdeckte er den Namen Bruckner in den Bayreuther Blättern in einem im Oktober 1884 erschienen Aufsatz von Josef Schalk (s. Lit.). Van Meurs forderte daraufhin die Partitur der Dritten Symphonie beim Verlag Rättig in Wien an, um so schnell wie möglich eine Aufführung in Den Haag zu realisieren. Der fanatische Anti-Wagnerianer Verhulst lehnte eine Aufführung aufgrund der Widmung an Wagner ab, war aber, nachdem Van Meurs versprochen hatte, die Widmung nicht auf das Programm drucken zu lassen, schließlich einverstanden, das Werk zu dirigieren. Diese Vorgeschichte wurde auch in Österreich bekannt, wie ein Brief von Ferdinand Löwe an Franz Schalk bezeugt. Löwe drängte F. Schalk, seinen Beruf als Dirigent seriös zu nehmen, „sonst werden uns allen noch die Bruckner‘schen Symphonien von Capellmeistern aus der mendelmaier‘schen Schule wegdirigirt, so etwas hat sich nämlich in allerjüngster Zeit in [Den] Haag ereignet, wo Herr Verhulst die Wagner-Symphonie zur Aufführung brachte.“ (Briefe I, 850200). In Den Haag wurde (wie auch in Amsterdam) Bruckners Name falsch (mit Umlaut) abgedruckt, sowohl auf dem Programmblatt als auch in der Kritik, die Willem Frederik Gerard Nicolaï (1829–1896) verfasste: Die Symphonie „ist ,dem hochverehrten Meister Richard Wagner‘ gewidmet. Diese Aufschrift, in Zusammenhang mit dem Umstand, daß dieses 5. nicht das ‚Pariakonzert‘ war und der Herr Verhulst also selbst dirigierte, gibt zu denken! ‚Schon von Wagners Jünger und Verehrer, aber nicht vom Meister selbst?‘ … Vivent les principes! Ob Wagner selbst in dieser Art eine Symphonie geschrieben hätte, bezweifeln wir und solches auf Grund seiner Faustouvertüre, die durch eine Einheit und Festhalten an den Hauptmotiven gekennzeichnet ist, welche man vergebens in Brückners [sic] Werk sucht. Man findet eine Menge Details, verschiedene Themen, Material für etwa drei mögliche Symphonien, aber eine logische Entwicklung fehlt. Dadurch beeindruckt das Werk die Hörer kaum, während die, die imstande sind, die Partitur zu lesen oder bei der Aufführung die Abschnitte zu genießen (speziell die Exekutanten), mit Eingenommenheit über den Komponisten sprechen.“ (zit. n. Van Zwol 1989, S. 128f.).
Bruckner berichtete Arthur Nikisch am 25.2.1885 von „herrliche[n] Briefe[n]“ aus Holland (Briefe I, 850225), die jedoch wie auch Van Meurs‘ Briefe an Bruckner nicht erhalten sind. Nur ein Brief Bruckners vom 9.2.1885 an Van Meurs (Briefe I, 850209) war lange in dessen Besitz. Er überließ August Göllerich, der 1902 in mehreren Zeitschriften aufrief, ihm Material für seine Bruckner-Biografie zu schicken, Bruckners Brief mit der Bitte, diesen nach der Einsichtnahme wieder zurückzusenden. Göllerich kam dieser Bitte aber nicht nach und so war das Bruckner-Autograf für Holland verloren. Der Brief befindet sich aktuell in der Sammlung Arthur Wilhelm der Paul Sacher Stiftung Basel.
Literatur
- Josef Schalk, Anton Bruckner, in: Bayreuther Blätter 7 (1884), S. 329–334
- Cornelis van Zwol, Johannes Verhulst – Komponist und Bruckners erster Dirigent in den Niederlanden, in: Bruckner-Symposion 1989Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Symposion. Orchestermusik im 19. Jahrhundert. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1989. 20.–24. September 1989. Bericht. Linz 1992, S. 115–130
- Cornelis van Zwol, Bruckner-Rezeption in den Niederlanden und im anglo-amerikanischen Raum, in: Bruckner-Symposion 1991Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Symposion. Bruckner-Rezeption. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1991. 18.–22. September 1991. Bericht. Linz 1994, S. 149–160
- Cornelis van Zwol, Ein Bibliothekar aus Den Haag und ein dirigierender Komponist in Amsterdam – die ersten Stützen Bruckners in den Niederlanden, in: Bruckner-Symposion 1994Othmar Wessely u. a. (Hg.), Bruckner-Symposion. Bruckner-Freunde – Bruckner-Kenner. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1994. 21.–25. September 1994. Bericht. Linz 1997, S. 95–105
- Cornelis van Zwol, Richard Hol – Bruckner-Dirigent zwischen Verhulst und de Lange, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1997–2000, S. 321–330
- Cornelis van Zwol, Die Korrespondenz zwischen August Göllerich und dem ‚…Bibliothekar in Haag‘, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1997–2000, S. 331–339
- Briefe IAndrea Harrandt/Otto Schneider (Hg.), Briefe von, an und über Anton Bruckner. Bd. I. 1852–1886 (NGA XXIV/1). 2., rev. und verbesserte Aufl. Wien 2009
- ABCD