Nikisch, Arthur

* 12.10.1855 Lébényi Szent Miklós/Ungarn (Mosonszentmiklós/H), † 23.1.1922 Leipzig, Sachsen/D. Dirigent.

Sein Großvater Karl Benjamin, Bauernsohn aus Liegnitz in Schlesien (Legnica/PL), lebte als Tuchscherer in Neutitschein (Nový Jičín/CZ). Nikischs Eltern waren August, Oberbuchhalter bei Baron Sina, und Luise geb. Robosz, Tochter des fürstlich Palffy‘schen Gutsverwalters Michael Robosz. Sie führten ein musikfreundliches Haus, in dem Joseph Hellmesberger, der Cellist Heinrich Röver (1827–1875) und der Pianist Anton Door (1833–1919) verkehrten. Nachdem er schon im frühesten Alter Neigung zur Musik gezeigt hatte, erhielt er, nachdem die Familie nach Butschowitz in Mähren (Bučovice/CZ) gezogen war, mit sechs Jahren auf eigenes Verlangen Unterricht auf der Violine und in Musiktheorie bei Franz Prochazka. Mit sieben Jahren zeigte sich sein Talent, in dem er zwei auf einem Orchestrion gehörte Ouvertüren aus dem Gedächtnis niederschrieb. Mit acht Jahren produzierte er sich als Pianist mit Transkriptionen von Sigismund Thalberg (1812–1871). Ab 1866 studierte er am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Violine bei Carl Heissler (1823–1878) und Joseph Hellmesberger d. Ä., Klavier bei Wilhelm Schenner und Theorie bei Felix Otto Dessoff. Aufgrund seines Könnens wurde er sofort in die oberste Kompositionsklasse eingereiht. Im Mai 1872 war Richard Wagner in Wien, Nikisch durfte ihm als Vertreter der Konservatoriumsschüler einen Silberpokal überreichen und konnte durch die Protektion Hellmesbergers bei der von Wagner geleiteten Aufführung der Eroica am 12.5.1872 mitspielen; zwei Wochen später, am 22.5.1872, spielte er bei der feierlichen Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses 2. Violine in dem aus Musikern ganz Deutschlands zusammengesetzten Orchester bei der von Wagner dirigierten Neunten von Ludwig van Beethoven. Er selbst sagte zu diesen Erlebnissen: „Ich kann sagen, daß Wagners ‚Eroika‘ in Wien und dann die ‚Neunte‘ in Bayreuth für meine ganze Beethoven-Auffassung, ja, für meine Orchesterinterpretation überhaupt entscheidend geworden ist.“ (Chevalley, S. 13). 1874 wurde er, nachdem er dort zwei Jahre als Substitut gespielt hatte, Violinist des Hofopernorchesters. Auf Empfehlung Dessoffs kam er im Jänner 1877 als Chordirektor an das Leipziger Stadttheater unter Angelo Neumann (1838–1910), der sein Talent erkannte und ihn förderte. Nachdem er 1878 den ersten Kapellmeister Joseph Sucher (1843–1908) vertreten hatte, wurde er nach dessen Abgang 1879 dessen Nachfolger neben Anton Seidl. Er führte u. a. Wagners Ring des Nibelungen und Tristan und Isolde auf, ferner Werke von Giuseppe Verdi (1813–1901), Georges Bizet (1838–1875), Karl Goldmark und Ignaz Brüll (1846–1907). Leipzig wurde zum führenden Opernhaus (Chevalley, S. 19f.). 1879/80 vertrat er auch Carl Reinecke (1824–1910) als Leiter des Gewandhausorchesters, u. a. mit Robert Schumanns Vierter in Anwesenheit Claras, die sich darüber anerkennend äußerte. 1885 war er in Leipzig gemeinsam mit Martin Krause (1853–1918) in hervorragender Weise an der Gründung des Franz-Liszt-Vereines beteiligt. Am 1.7.1885 heiratete er die Opernsängerin und Komponistin Amélie Heusner (1862–1938), mit der er eine sehr glückliche Ehe führte, und mit der er zwei Söhne und zwei Töchter hatte. 1889 erhielt er einen Ruf nach Boston, wo er vier Jahre wirkte. Nach seiner Rückkehr übernahm er 1893 die Leitung des Budapester Opernhauses, verbrachte aber hier nach eigener Aussage die unglücklichste Epoche seines Lebens, sodass er 1895 um seine Enthebung ersuchte, um einer Berufung an das Leipziger Gewandhaus Folge zu leisten. Neben dieser Tätigkeit leitete er auch die Philharmonischen Konzerte in Berlin, wo nach Hans Guido von Bülows Tod eine größere Anzahl von Dirigenten wie Rafael Maszkowsky (1838–1901), Hans Richter, Felix Mottl, Rudolf Herfurth (1844–1917), Richard Strauss, Hermann Levi, Ernst Schuch oder Franz Mannstaedt (1852–1932) – immerhin eine bedeutende Anzahl hervorragender Rivalen – engagiert wurden, bis endlich 1895 die Entscheidung für Nikisch fiel. Nach anfänglichen Schwierigkeiten folgte mit dem ersten Konzert am 18.10.1896 der Durchbruch. Unter Nikisch blühten die Philharmonischen Konzerte wieder auf, das Orchester produzierte sich auch mit zahlreichen Gastspielen.

In Leipzig, eigentlich ein Hort der Tradition, verstand es Nikisch, das richtige Gleichgewicht zwischen Konservativen und Modernen herzustellen. So führte er neben Werken älterer Komponisten auch jene von Franz Liszt und Wagner, R. Strauss, Claude Debussy (1862–1918), Paul Dukas (1865–1935) und Arnold Schönberg (1874–1951; Kammersinfonie, Verklärte Nacht) auf. Neben seiner Stelle am Gewandhaus nahm er auch andere Aufgaben wahr, 1902–1907 als Studiendirektor am Konservatorium, 1905 nochmals interimistisch als Leiter der Leipziger Oper.

Am 10.1.1922 leitete Nikisch ein Arbeiterkonzert des Arbeiter-Fortbildungsinstitutes für die Teilnehmer am Parteitag der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Am Tag nach dem Konzert erkrankte er und starb am 23.1.1922. Das darauffolgende Konzert des Gewandhauses unter Wilhelm Furtwängler wurde zu einer Huldigung für Nikisch mit der Coriolan-Ouvertüre und dem Trauermarsch aus der Eroica und dazwischen den Vier ernsten Gesängen von Johannes Brahms.

„Er war, wenn wir ihn rein als Musiker betrachten, wohl das vollendetste Beispiel eines modernen Kapellmeisters. Zu dem feinsten Gehör und einer Fähigkeit, ohne jede Vorbereitung auch die schwierigsten Partituren zu beherrschen, kam eine geradezu unbegreifliche Begabung für die Technik des Dirigierens. Man mußte bei ihm nicht ein regelrechtes Taktschlagen erwarten. Was er am Pult und wie er es machte, das ist sein Geheimnis geblieben.“ (Ochs, S. 292). Ähnliche Äußerungen bis hin zu regelrechten Huldigungshymnen finden sich vielfach über Nikisch, wobei v. a. immer wieder sein unglaubliches Gehör (er soll z. B. den falschen Fingersatz eines Cellisten aus dem Orchester herausgehört haben [Ochs, S. 293]) und sein Gedächtnis (er dirigierte auswendig und spielte ohne Noten die Werke Wagners am Klavier) gerühmt werden. Zu seinen Bewunderern gehörte Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840–1893), der ihn in Leipzig erlebte: Im Gegensatz zu Bülow sei er „ruhig, sparsam mit überflüssigen Bewegungen, aber dabei außerordentlich gebieterisch, mächtig und voller Selbstbeherrschung. Er dirigiert nicht, sondern es scheint, als ob er sich einer gewissen geheimnisvollen Zauberei hingibt. Man bemerkt ihn kaum; er bemüht sich durchaus nicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und doch fühlt man, daß das ungeheure Orchesterpersonal, wie ein Instrument in den Händen eines bewunderungswürdigen Meisters, sich vollständig und willig den Anordnungen seines Hauptes fügt.“ (Dette, S. 38f.).

Brahms und Bruckner gehörten (neben Wagner und Tschaikowsky) zu den von ihm bevorzugten Komponisten. In einer Ansprache beim Festkommers anlässlich des 40-jährigen Bestehens der Liedertafel „Frohsinn“ in Linz meinte Bruckner, dass es nach dem Ableben Wagners schien, „als hätte er in seiner Herzensgüte mir Vormünder bestellt. Mein erster Vormund war Herr Nikisch in Leipzig, der zweite der Dirigent Levy in München.“ (Göll.-A. 3/1, S. 601). Nikisch, der 1873 bei der Uraufführung der Zweiten Symphonie in Wien als Geiger unter dem Dirigenten Bruckner mitgewirkt hatte, bekannte noch 1919, dass bereits damals jene Begeisterung in ihm geweckt worden sei, die er schließlich für alle Bruckner-Symphonien empfand. Als Josef Schalk und Ferdinand Löwe Ende März 1884 im Rahmen einer von Nikisch betreuten musikalischen Soirée moderner Musik die von Franz Schalk erarbeitete vierhändige Klavierfassung (Bearbeitungen) der Siebenten Symphonie aufführen wollten und Löwe im letzten Moment krankheitshalber absagte, gab der dem Wagnerkreis nahestehende Nikisch nach dem gemeinsamen Durchspielen am Klavier J. Schalk spontan sein „heiliges Ehrenwort“, dass er das Werk „in sorgfältigster Weise zur Aufführung bringen werde“, und betonte, dass er es „von nun an für [s]eine Pflicht“ halte, „für Bruckner einzutreten“ (Briefe I, 840330). Da es – bedingt durch äußere Umstände – bis zur Uraufführung noch geraume Zeit dauerte, schrieb Bruckner seinem von ihm so bezeichneten „Lebensretter“ zahlreiche, meist in einem fast devoten Stil abgefasste Briefe. Kurz vor der Aufführung informierte Nikisch den Komponisten, dass er einige Stellen werde ändern müssen, und zwar „in der Instrumentation, da sie unpraktisch geschrieben sind und nicht schön klingen“ (Briefe I, 841221). Dies sollte allerdings gemeinsam mit dem Komponisten geschehen, der auf seinen Wunsch hin bei den letzten zwei von insgesamt fünf Proben anwesend war, da er Probleme mit der richtigen Tempowahl und dem häufigen Tempowechsel befürchtete. Den später viel diskutierten Beckenschlag im Adagio hat Bruckner erst auf Anregung Nikischs eingefügt, wie der Brief J. Schalks vom 10.1.1885 bestätigt: „Du weißt vielleicht nicht[,] daß Nikisch des [!] von uns ersehnten Beckenschlag im Adagio (Cdur 6/4 Akkord) sowie Triangel u. Pauken durchgesetzt hat, was uns unbändig freut.“ (Briefe I, 850110). Die Uraufführung der Siebenten am 30.12.1884 mit dem Gewandhausorchester im Neuen Theater in Leipzig im Rahmen des Opern-Abonnements zugunsten der Errichtung eines Wagner-Denkmals wurde durch den großen persönlichen Einsatz des Dirigenten zum – wenn auch nicht uneingeschränkten – Erfolg und bedeutete den Beginn von Bruckners Durchbruch; Bruckner selbst nannte ihn seinen „erste[n] Apostel“ (Briefe I, 850707/2). Persönlich tauschten Bruckner und Nikisch bei diesem Anlass das Du-Wort. Am 27.1.1885 führte Nikisch Adagio und Scherzo der Siebenten in einem Festkonzert des Rates der Stadt Leipzig für das sächsische Königspaar Albert und Carola auf. Nikisch dirigierte jedoch erst wieder nach dem Tod des Komponisten dessen Symphonien, obwohl Bruckner ihn „innigst“ gebeten hatte, die Siebente in Berlin zu wiederholen (Briefe II, 880620, 881123/1).

Auf die Nachricht von Bruckners Ableben nahm Nikisch im Konzert vom 22.10.1896 das Adagio der Siebenten auf. Die damals bereits geplante und durch das Gedenkkonzert verschobene Aufführung des Te Deum erfolgte am 18.2.1897.

Nikischs Brucknerpflege am Gewandhaus setzte erst im 20. Jahrhundert langsam und sukzessive mit einer Aufführung pro Saison (1902/03 die Dritte, 1903/04 die Siebente, 1904/05 die Zweite, 1906/07 die Neunte, 1911/12 die Vierte, 1912/13 die Sechste, in den Kriegsjahren führte er keine Bruckner-Symphonien auf) ein. Er schätzte sich nach seinen eigenen Worten „stolz und glücklich“, seine „Pioniertätigkeit durch eine zyklische Aufführung“ aller Symphonien in der Saison 1919/20 in Leipzig „gekrönt“ gesehen zu haben (Neues Wiener Journal 11.10.1919, S. 6). Im Ganzen dirigierte er im Gewandhaus 40 Bruckner-Aufführungen, die meisten – sechs – 1919 (Erste bis Vierte je ein-, Fünfte zweimal), am häufigsten leitete er die Vierte und Achte (je siebenmal) und die Dritte (sechsmal; Heuß, S. 45f.).

1920 gründete Nikisch gemeinsam mit Harry von Pilgrim (1863–1925) die Berliner Bruckner-Vereinigung (Bruckner-Gesellschaften).

Literatur

THEOPHIL ANTONICEK, INGRID FUCHS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 21.1.2019

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Abbildungen

Abbildung 1: Neue Zeitschrift für Musik 103 (1936) H. 10, S. 1192/2

Normdaten (GND)

Nikisch, Arthur: 118786253

Links

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