Jazz und Rockmusik

Gibt es Möglichkeiten der Annäherung von Bruckners bis ins kleinste Detail auskomponierten Symphonien und der offenen improvisatorischen Konzepte der Jazzmusik? Eine gemeinsame Komponente wäre die collagen- bzw. zitathafte Integration von Fremdmaterialien motivisch-thematischer Natur.

Vergleichbar mit Gustav Mahlers Einbau bedeutungstragender Zitate eigener und fremder Lieder meist volksmusikalischer Art, integriert Bruckner zuweilen motivisch-thematische Fragmente aus Opern seines großes Vorbilds Richard Wagner wie in der Erstfassung der Dritten Symphonie oder lässt assoziativ Themen aus eigener geistlicher Vokalmusik wie den Linzer Messen (Messe in d‑Moll, Messe in e‑Moll, Messe in f‑Moll) in die symphonische Struktur einfließen. So zeigt sich bereits in Bruckners kompositorischer Offenheit für den Einbau nicht spezifisch symphonischen Materials eine Parallele zur ebenso offenen Konzeption improvisatorischer Jazzmusik, die ihrerseits wiederum gerne in Soloimprovisationen zitathaft oder auch durcharrangiert auf klassisches oder auch eigenes Themenmaterial sogenannter Standards sowie auf bestimmte Gestaltungsformen europäischer Kunstmusik-Tradition (Fuge etc.) zurückgreift.

Als Organist war Bruckner in der kirchenmusikalischen Tradition großer Orgelspieler wie Johann Sebastian Bach für seine Improvisationen bekannt. Er improvisierte nicht nur über frei gewählte Motive eigener Werke, sondern auch immer wieder über klassische Themen wie die Volkshymne. Damit rückt Bruckner recht nah an improvisatorische Jazzkonzepte des 20. Jahrhunderts.

Dass der klassische Schaffensprozess bis zum vollendeten Stück ebenso über Phasen improvisatorischer Kreativität laufen kann und sich somit wie in der Orgelimprovisation unterschiedliche Lösungswege anbahnen, beweist der Blick in kompositorische Vorstufen wie Skizzen oder Particell-Entwürfe. So finden sich in der Bruckner-Literatur Analysen, die seine Gestaltungsprinzipien als großer Orgelimprovisator auf seine Symphonik projizieren, in ihrer Form- und Strukturgestaltung ebenso improvisatorische Züge erkennen. Das gilt v. a. für die Symphonien, deren finale Apotheosen wie in den Orgelimprovisationen mit Hilfe fugierter Spannungsaufladungen gestaltet werden, so z. B. in seiner Fünften Symphonie.

In dem Zusammenhang ist auch die beinahe unerschöpfliche Fassungsvielfalt von Bruckners Gesamtwerk zu erklären, die offensichtlich seinen großen Schöpfergeist widerspiegelt. Gleich einem Jazzmusiker der Neuzeit verstand er eine Fülle von unterschiedlichen Strukturen zum gleichen Sujet aufzubauen. V. a. die Symphonien mit ihren unterschiedlichen Fassungen sind offensichtlich nicht auf eine einzige gültige Lösung festzulegen. Das Material inspiriert wie in der jazzmusikalischen Praxis der Standard-Interpretation immer wieder neu. So kommen auch heute noch neue Fassungen hinzu. Arrangements für Orgel als Beleg für die große Improvisationskunst Bruckners oder Fassungen für moderne Besetzungen berichten auch neuen Generationen, die über die komplexen Orchesterstrukturen zunächst nicht den Zugang finden, von Bruckners kompositorischer wie improvisatorischer Kraft. Ansätze finden sich bereits: z. B. Ohad Talmor‘s Jazzadaption von Bruckners Messe in f‑Moll für Nonett, aufgeführt am 21.8.2008 im Bibliothekskeller in St. Florian.

Neben diesen grundsätzlichen Parallelen in den Bereichen Zitat, Improvisation an der Orgel und improvisatorische Ansätze im Werk finden sich auch gewisse – unbewusste – Jazztendenzen in einzelnen Elementen wie Rhythmik und Harmonik. Komponisten des Impressionismus bedienten sich häufig jazztypischer Septakkordketten, also harmonischer Zusammenhänge, die nicht mehr traditionellen Regeln klassischer Musik gehorchen und konsequent nach Dissonanzaufladung die konsonante Auflösung suchen. Das Adagio von Mahlers Zehnter Symphonie gipfelt in der äußerst dissonanten Klimax eines vieltönigen Klangclusters mit so dissonanten Optionen wie verminderte Quart, verminderte Quint, kleine Sext, kleine Sept, verminderte Oktav und kleine Non. Damit blickt Mahler harmonisch zurück auf die epochalen Leistungen von Wagners Tristan-Akkord, der bereits ebenso nicht mehr traditionell nach Dreiklangsauflösung strebt, wie auch von Bruckners Adagio seiner Neunten Symphonie, das wie bei Mahlers Zehnter den dissonanten Klimaxakkord erst nach und nach durch einen längeren beruhigenden Ausklang auflöst. Diese grenzüberschreitende Dissonanz-Harmonik weist bereits auf die optionsreiche, vielfach alterierte Jazz-Harmonik, die auch tonikal und an anderer Stelle von Dissonanzen reichlich Gebrauch macht, ohne an Auflösung in der weiteren Entwicklung zu denken. Immer wieder wird in der Literatur zur Jazzgeschichte auf die Bedeutung des Marsches für die Anfänge des Jazz in New Orleans hingewiesen, dessen Rhythmen noch die traditionellen Taktschwerpunkte auf der ersten und dritten Zählzeit erkennen lassen. In Bruckners Werken spielen Marschrhythmen schon früh eine wichtige Rolle, meist punktiert und vielfach triolisch, so im Marsch für Orchester in d‑Moll aus dem Jahr 1862. Triolenrhythmen kombinieren sich mit punktierter Marschrhythmik und lassen somit Parallelen zur Shuffle-Rhythmik erkennen, die als Begleitfiguren der linken Hand des Piano-Boogie-Woogies und über den Chicago-Jazz zum Swing gelangten.

Notenbeispiel 1: Marsch für Orchester in d‑Moll, T. 1–4 (vgl. Göll.-A. 3/2, S. 29).

Dabei fusioniert das afrikanische System der ternären mit dem europäischen der binären Unterteilung. Der sogenannte Bruckner-Rhythmus kombiniert zwei- und dreiteilige Einheiten zu thematischen Gebilden wie in dem Finale der Vierten Symphonie und dokumentiert somit eine weitere Übergangsform zur Jazzrhythmik.

Notenbeispiel 2: Vierte Symphonie (2. Fsg.), 4. Satz, Vl. 1, Kb., T. 43–55.

Was die Bruckner-Rezeption aus Sicht der Jazz-Szene betrifft, so findet sich ähnlich wie im Fall Mahler eine eher überschaubare Liste an Musikern, die auf Einflüsse und Inspirationen in eigenen Kompositionen und Stilen verweisen. Einige Beispiele sollen die Situation verdeutlichen. Der Schweizer Jazzsaxofonist und Komponist Daniel Schnyder (* 1961) widmete Bruckner den Titel (I) remember Tony (Hommagen und Widmungen an Bruckner) und verarbeitete darin eigenen Aussagen zufolge Rhythmen und Harmonik spätromantischer Symphonien sowie der Jazzmusik. Aufführungen fanden am 28.10.1993 im Volkshaus in Zürich und am 30.10.1993 im Stadtcasino in Basel statt.

Der amerikanische Jazzsaxofonist Branford Marsalis (* 1960) äußert sich in einem Interview in der Jazzzeitung ([2002] H. 9) über die Qualität wenig vermarktungsfähiger Musik wie die von Bruckner, Mahler und Paul Hindemith (1895–1963), deren komplexe musikalische Strukturen scheinbar nach wie vor weniger kommerzialisierbar sind wie die eines Wolfgang Amadeus Mozart.

Wiederum ist es ein Saxofonist, der auch in Österreich Bruckners universale Klangsprache für den Jazz und die Rockmusik erschließt. Thomas Mandel (* 1965) führte mit dem Temporary Art Orchestra 2007 anlässlich der Bruckner-Tage in St. Florian Bruckner V. improvised (op. 69) für elf Instrumentalsolisten erstmals auf. Die Einleitungsfanfare auf verzerrter E-Gitarre gespielt in bester Jimi Hendrix-Manier, dazu ein jazzig-rockendes Drum-Set und Saxofonlinien, welche die Oberstimmenmelodik übernehmen und dem Klangcharakter eine ganz eigene Note verleihen, vergleichbar mit Uri Caines (* 1956) Mahler-Adaptionen. Improvisierte Parts mit Soloeinlagen von Trompete, Klavier u. a. lockern zudem das ursprüngliche Formkonzept auf. Eine weitere Uraufführung in St. Florian gab es 2009 mit Mandels Bruckner VII translated (op. 80), in der sich der kunstvolle formale Aufbau der großen Symphonie mit den aktuellen Musikstilen verbindet.

Als in den 1960er Jahren die Eruptivkräfte sowie die virtuose Beherrschung des Instrumentariums der Rockmusik wuchsen, stellte sich auch bald das Interesse an kunstvollen Strukturen und Formen ein. Klassikrock war eine neue Richtung, die sich um eine progressive Verbindung in der Nachfolge bislang bekannter Fusionen mit dem Jazz bemühte. Wie im Jazz lassen sich aber nur verhältnismäßig wenige Rock-Formationen ausfindig machen, die konkret den Bezug zu Bruckner herstellen. So behauptet der Keyboarder und Sänger der Ende der 1960er Jahre gegründeten deutschen Rockgruppe Wallenstein, Jürgen Dollase (* 1948), in einem Internet-Interview, von Bruckner, Mahler und Richard Strauss beeinflusst zu sein. Sowohl die ruhigen Passagen in deren Werken als auch die „enormen symphonischen Steigerungen“ beeindruckten ihn. Er empfand sie, wie er sagt, „als äußerst rockig“ und ließ sich von jeder guten Musik infizieren, was zumindest tendenziell auf offene Collage-Konzeptionen Bruckners und Mahlers verweist (http://forum.klix.ba/njemacka-pop-rock-scena-t15687s150.html). Da Wallenstein von 1971–1982 existierte, liegt wohl einer der frühesten Bezüge der Rockmusik zu Bruckner vor.

1978 führte die Linzer Rockband Eela Craig eine neuartige Vertonung des Mess-Ordinariums mit den Sätzen Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei und Amen anlässlich des Internationalen Brucknerfestes Linz auf. Zwischen elektronischen Synthesizer-Flächen und rockmusikalischen Strukturen im Stile diverser progressiver Klassikrock-Formationen der 1970er Jahre (Genesis, Pink Floyd u. a.) sowie mehrsprachigem Text (Latein, Deutsch, Englisch und Französisch) bauten Hubert Bognermayr (1948–1999) und seine Mitmusiker in ihre Missa Universalis thematisches Material von Bruckner ein. Womit eine Fortsetzung des collagierenden Zitatverfahrens, das zugleich dem Jazz wie auch den Symphonien Bruckners und Mahlers zueigen ist, festgestellt werden kann.

Literatur

RAINER BOSS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 7.5.2018

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