Kontrapunkt und Polyphonie

Kontrapunkt bei Bruckner bedeutet v. a. Gestaltung von Fugen in den finalen Steigerungsentwicklungen seiner Symphonien, großartig gelöst u. a. in der Fünften und Achten Symphonie. Bruckners Frühwerk mit all den Vokalfugen seiner Psalmen und den Orgelfugen in fixierter und improvisierter Form sowie den drei großen Messkompositionen war bereits vorbereitender Ansatz zur symphonischen Fuge. (Zur Kontrapunktik vgl. auch Kanon.)

Bereits seit seiner Jugend hatte sich Bruckner „mit allem Eifer den contrapunctischen Studien“ (Briefe I, 671014) gewidmet. Die ersten musikalischen Kenntnisse erwarb Bruckner bei seinem Vater (Bruckner, Familie) und dem Vetter Johann Baptist Weiß, die beide als Schullehrer auch kirchenmusikalische Aufgaben zu erledigen hatten. Der komponierende Vetter inspirierte Bruckner zu ersten Kompositionen, zog als Lehrstoff wohl in erster Linie für die Spielpraxis auch schon Werke Joseph und Michael Haydns, Wolfgang Amadeus Mozarts und Johann Georg Albrechtsbergers heran und machte Bruckner durch Aufführungen auf die Kirchenwerke dieser Klassiker aufmerksam.

Mit dem Aufblühen der kompositorischen Tätigkeit in Kronstorf kam es ab 1843 zu ersten imitatorischen Verselbständigungen der Stimmen, was den Privat-Lektionen bei dem Ennser Organisten und Chorleiter Leopold von Zenetti zu verdanken war. 1845 komponierte Bruckner entsprechend der vorgefundenen Gattungstradition „ein fugiertes Kyrie und Gloria“ für seine Messe für den Gründonnerstag in F-Dur. Da beide Sätze verschollen sind, findet sich mit dem ersten der zwei Asperges, einem vierstimmigen Chorsatz mit Orgelbegleitung, Bruckners erste erhaltene, kompositorisch-eigenständige Fugierung. Eine Beschäftigung mit Kontrapunkt und Fuge muss demnach bereits für die Kronstorfer Zeit zwischen 1843 und 1845 als erwiesen gelten.

Mit entsprechender Konsequenz verfolgte Bruckner die seit der Windhaager Zeit in Eigenverantwortung gelenkte musikalische Weiterbildung, die aber nicht nur das handwerkliche instrumentale Fortkommen (Orgel, Klavier), sondern auch die kompositorisch-satztechnische Entwicklung betraf. Dokumentiert sind diese kontrapunktischen Studien in einer Vielzahl von eigenhändig angefertigten Abschriften, in denen Bruckner sich mit zumeist aus Messkompositionen entnommenen Fugen, teils aber auch mit eigenständigen Fugen oder fugierten Passagen aus den Werken Joseph Eyblers, Franz Aumanns, M. und J. Haydns oder Mozarts beschäftigt. Die Differenzierung zwischen spielpraktischen Improvisationsübungen für die Orgel und satztechnischen Studien lässt sich – wenngleich nicht immer abschließend eindeutig – anhand der verwendeten Systeme innerhalb der Abschrift, der Anzahl der abgeschriebenen Stimmen sowie dem Vorhandensein von Bezifferung (die eher auf die Partimento-Tradition verweist) erkennen. Die so in der St. Florianer Zeit zwischen 1845–1855 erfolgte musikalische Weiterentwicklung Bruckners auf dem Gebiet kontrapunktischer Satztechnik veranschaulicht neben dem ungemeinen Engagement des jungen Organisten auch die naheliegende Notwendigkeit der Anleitung durch einen repertoirekundigen Lehrer, der mit Anton Kattinger bereit stand.

Weitere Zeugnisse für Bruckners erwachende „kontrapunktische Kräfte“ entstehen sowohl auf vokalem (Requiem- und Psalmen-Fugen) wie auch auf instrumentalem Gebiet (Orgelfugen). Die in diesen Fugen des Frühwerks öfter anzutreffenden Terz- und Sextparallelführungen bedeuten für die real vorhandene kontrapunktische Vielstimmigkeit eine Eingrenzung zugunsten harmonischen Satzdenkens, das auf der einen Seite auf die Vorbilder Mozart und Felix Mendelssohn Bartholdy verweist und auf der anderen Seite sich von dem weitaus mehr durch Linearität geprägten Kontrapunkt Johann Sebastian Bachs abhebt, dessen Einfluss deswegen aber nicht geleugnet werden muss, da auch die Stilistik Mozarts und Mendelssohn Bartholdys Einflüsse Bachs aufzeigt.

Bruckner scheint in dieser Zeit bewusst geworden zu sein, dass seine nach klassischem und Mendelssohns Vorbild konzipierte „,galante‘ Fugenarbeit“ (Göll.-A. 2/1, S. 108) für sein kompositorisches Vorankommen nicht ausreichte. Die ab 1855 begonnenen Studien bei dem als Kapazität auf satztechnischem Gebiet bekannten Wiener Musiktheoretiker Simon Sechter waren daher die logische Folge. Gewissermaßen als Meisterstück und Abschlussprüfung des Unterrichts bei Sechter im März 1861 komponierte Bruckner die Fuge in d-Moll für Orgel. Die durch die Schulung bei Sechter perfektionierte Beherrschung der kontrapunktisch-fugierten Satztechnik äußerte sich vor allem in der Überwindung der in früheren Fugen vielfach anzutreffenden Parallelbewegung. Auch der jeweils vorbereitete und gesteigerte Einsatz satztechnischer Mittel und die straffe und schlüssige Organisation der kontrapunktischen Form, die zu neuen Gestaltungen wie der simultanen Kombination von Engführungsabschnitt und Orgelpunkt führt, zeigen Bruckners Souveränität in der Handhabung der gestalterischen Mittel nach Abschluss der Studien, die offensichtlich die linearen Kräfte im polyphonen Satzbau Bruckners zu stärken wussten und somit trotz aller steigerungsdynamischen Tendenzen an J. S. Bach annäherten.

Mit der Kontrapunkt-Prüfung am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien sowie der Orgelprüfung an der Orgel der Piaristenkirche, bei der Bruckner über ein vorgegebenes Thema Sechters fugierte und Johann Herbeck zu seinem viel zitierten Ausspruch: „Er hätte uns prüfen sollen!“ (Göll.-A. 3/1, S. 117) verleitete, kann Bruckners Ausbildung in kontrapunktischer Setzweise als abgeschlossen gelten. Eine erneute Hinwendung zum Kontrapunkt im strengen Stil in späteren Lebensjahren wie sie für Mozart, Ludwig van Beethoven oder Franz Schubert überliefert ist, erübrigt sich bei Bruckner durch dessen fortlaufende Lehrtätigkeit, die durch Aufbereitung und Wiederholung der kontrapunktischen Grundlagen für seine Schüler eine stetige Reflexion des Gegenstandes mit sich zog. Als Zeugnisse der gemeinschaftlichen Kontrapunkt-Studien mit seinen Schülern sind die Dittrich-Doppelfuge, das Christ-Fugenfragment oder das Loidol-Fugenfragment exemplarisch anzuführen.

Kontrapunktische Satztechnik im strengen und freien Stil ist damit im Leben Bruckners – sei es bei Orgelimprovisationen oder bei seiner Ausbildung und Lehrtätigkeit – allgegenwärtig, sodass es nicht verwundert, dass auch das kompositorische Oeuvre davon durchsetzt ist. In besonderem Maße trifft dies natürlich auf die großen Messen in d-Moll, e-Moll und f-Moll, aber auch auf die Symphonik zu.

Die Messkompositionen Bruckners zeichnen sich dabei durch ein Festhalten an gattungsspezifischen Traditionen, wie der Verwendung einer Schlussfuge in den Gloria-Sätzen aus. Aber auch in den umschließenden Kyrie- und Credo-Sätzen verwendet Bruckner kontrapunktische Satztechniken wie Imitationen, Engführungen und Umkehrungen sowie Augmentationen und Diminutionen. Die kompositorische Einbindung der kontrapunktischen Mittel – deren Ausprägung in einzelnen Abschnitten zwischen strengem Kontrapunkt, freien Imitationen und Fugierungen sowie fugierten bzw. imitatorischen „Restbeständen“ variiert – obliegt zumeist der funktionalen Ausrichtung innerhalb der Satzanlage, d.h. eine Zunahme und Verschärfung der kontrapunktischen Mittel dient in den Bruckner’schen Messen gleichsam der Spannungsverdichtung und Steigerung hin zu einem angesteuerten Satzhöhepunkt, der jedoch als zumeist homophon-akkordische Auflösung des zuvor verdichten Satzgefüges inszeniert ist. Eine derartige strukturelle Anlage lässt sich in den Mittelteilen des Kyrie der Messen in d-Moll und e-Moll beobachten. Die Herausführung aus dem kontrapunktischen Satz erfolgt dabei durch „die durch mehrfache Engführung gesteigerte Wiederaufnahme der Originalgestalt des Fugierungsmotivs“ (Boss 1997, S. 124).

Ein weiteres verbindendes Gestaltungsprinzip in den Messkompositionen ist die Einbindung der Schlussfuge in den entsprechenden Messsatz, die nicht wie üblicherweise durch formale Zäsuren wie Generalpausen oder Fermaten vom übrigen Satzgeschehen abgetrennt ist – ausgenommen die Schlussfuge des Glorias der Messe in f-Moll, die durch einen Taktwechsel rhythmisch abgesondert ist. Charakteristisch für die Bruckner‘sche Kontrapunktik in den Messfugen ist die Auslassung von Zwischenspielen in der Fugenexposition, die mit einem zumeist tonikalen (überzähligen) dux-Einsatz insgesamt mit fünf Fugenthemeneinsätzen ausgestaltet wird sowie die in der Themendurchführung häufig angewandte Technik, die Umkehrung des Fugenthemas mit dessen Originalgestalt engzuführen. Zudem bildet die Augmentation des Fugenthemas in allen Gloria-Fugen den Fugenschluss, der gleichsam motivisch-thematische Rückbezüge zu den vorangegangenen Messsätzen aufzeigt (Boss 1997, S. 111ff.).

Kontrapunktische Satztechniken und motivisch-thematische Abspaltungs- und Durchführungsverfahren gehen in der kompositorischen Ausgestaltung Bruckners ineinander über, sodass einerseits Kontrapunktik und motivisch-thematische Arbeit nur schwer als getrennte Kompositionsprozesse verstanden werden können und andererseits satzübergreifende Bezüge die Messesätze in zyklischer Form aneinanderbinden. Diese Kompositionsstrategie eines satzübergreifenden Voraus- und Rückbezugssystems mittels des thematischen Materials lässt sich in gesteigerter und ausgeweiteter Form natürlich auch im symphonischen Oeuvre Bruckners erkennen.

Neben den Finalsatzfugen in der Symphonie in d‑Moll („Annullierte“) sowie in der Fünften, Achten und Neunten Symphonie, gibt es bei den Symphonien bestimmte Formteile, die bei Bruckner geradezu prädestiniert sind für kontrapunktische Verarbeitung. Die Durchführung als primärer Ort für motivisch-thematische Aufspaltungs- und Kombinationsprozesse bot sich wohl am ehesten für kontrapunktische Verarbeitung an, wobei allerdings auf den Umstand verwiesen werden muss, dass sich der Durchführungscharakter bei Bruckner nicht nur auf den vom klassischen Sonatensatzmodell vorgeschriebenen Formabschnitt beschränkt, sondern vielerorts gegenwärtig ist, wie z. B. in den bereits anders gearbeiteten Wiederholungen der ersten Symphoniethemen der Siebenten und Achten oder auch des ersten Finalthemas von Bruckners symphonischem Einstiegswerk, der Symphonie in f‑Moll („Studiensymphonie“).

Ein weiteres Feld für polyphone Strukturierung ist bei Bruckner neben der Durchführung der Seitensatz, dessen thematische Einheit in mehrere Teillinien aufgelockert ist, so z. B. das Seitenthema des Finalsatzes der Ersten Symphonie. Zu der führenden Melodie in der 1. Violine (1. Fassung, T. 38ff.) gesellen sich zwei weitere Stimmen in der 2. Violine und im Violoncello, die aber Selbstständigkeit in der Melodieführung bewahren.

Am Beispiel der polyphonen Themenvereinigung in der Dur-Apotheose der Achten Symphonie soll nun aufgezeigt werden, wie stark sich harmonische und kontrapunktische Kräfte in Bruckners Kompositionskonzepten durchdringen und zur untrennbaren Einheit verschmelzen. Anders als in der Apotheose des Finales der Fünften, wo bei der (eigentlichen) Übereinanderschichtung der drei Themen nur noch das erste Symphoniethema als Melodieträger zu erkennen ist und die anderen beiden Themen rhythmische und klangliche Begleitfunktionen übernehmen (T. 626ff.), bewahren die vier Hauptthemen der Achten bei ihrer Vereinigung im Rahmen des C‑Dur-Klangs melodische Selbstständigkeit, sodass von Polyphonie und Kontrapunkt gesprochen werden kann (T. 696ff.).

Notenbeispiel 1: Achte Symphonie (2. Fsg.), 1. Satz, Vc. und Kb., T. 24–27.

Notenbeispiel 2: Achte Symphonie (2. Fsg.), 2. Satz, Va., T. 3–6.

Notenbeispiel 3: Achte Symphonie (2. Fsg.), 3. Satz, Vl.1, T. 3f.

Notenbeispiel 4: Achte Symphonie (2. Fsg.), 4. Satz, 8 Hr., T. 3–6.

Notenbeispiel 5: Achte Symphonie (2. Fsg.), 4. Satz, T. 696–700, Vereinigung der vier Hauptthemen.

In dem Zusammenhang verweist Alfred Orel auf die bei Bruckner in der Regel anzutreffende „selbstständige Begleitung“, die durch ihre „Eigenberechtigung“ (Orel 1925, S. 57) eben nicht nur als „klangliche Bereicherung“ zur Hauptstimme, sondern als „obligate[s] Akkompagnement“ im Ludwig van Beethoven‘schen Sinne und vielfach sogar als „Doppelthematik“ (Orel 1925, S. 58) bezeichnet werden kann. Ebenso wie Orel, der Bruckner charakterisiert „als Meister des Kontrapunktes […], der aus dem homophonen Stil der Wiener Klassik erwächst und die harmonische Grundlage trotz weitestgehender Umwandlung durch das zur höchsten Ausbildung gebrachte obligate Akkompagnement nie verläßt.“ (Orel 1925, S. 65), erkennt Rudolf Louis den Akkord als „Prius“ und „Basis“ für Bruckners polyphone Bewegungen: „Bruckners Polyphonie ist eine Kunst der Gegeneinanderführung mehrerer selbständiger Stimmen, der Kombinierung verschiedener Themen auf Grund und im Rahmen des Akkords.“ (Louis, S. 269). Beide Autoren geben als Beispiel die polyphone Übereinanderschichtung der vier Hauptthemen im Finale der Achten Symphonie an und streichen die Priorität des strahlenden C‑Dur-Dreiklangs im symphonischen Schlussereignis gegenüber der polyphonen Verbindung heraus.

Aber gerade die polyphone Setzweise ist es, die es Bruckner ermöglichte, am Ende einer ganzen Symphonie-Entwicklung eben nicht nur die Schluss-Apotheose im aufhellenden Dur-Durchbruch zu konstatieren, sondern auch, auf die vorderen Sätze reflektierend, durch kontrapunktische Themenkombination die Zusammengehörigkeit aller vier Sätze zu symbolisieren und aufzuzeigen. Somit sind Bruckners Polyphonie, Kontrapunkt und auch der Fugengedanke als besondere Ausprägung desselben in keinem Falle Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, in dieser Funktion aber von unschätzbarem Wert für die „Idee des Ganzen“ (zit. n. Kurth, Bd. 1, S. 524), wie es Bruckner selbst geäußert haben soll.

Literatur
  • August Halm, Von zwei Kulturen der Musik. München 1913
  • Rudolf Louis, Anton Bruckner. 3. vermehrte Auflage. München 1918, S. 269f.
  • Alfred Orel, Anton Bruckner. Das Werk – Der Künstler – Die Zeit. Wien–Leipzig 1925, S. 52–65
  • Ernst Kurth, Bruckner. 2 Bde. Berlin 1925, Bd. 1, S. 524
  • Rudolf Eller, Bruckner und Bach, in: Walther Vetter/Ernst Hermann Meyer (Hg.), Bericht über die wissenschaftliche Bachtagung der Gesellschaft für Musikforschung. Leipzig 1951, S. 355–366
  • Alfred Orel, Bruckner und Bach, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 1981, S. 39–51
  • Rainer Boss, Gestalt und Funktion von Fuge und Fugato bei Anton Bruckner. Tutzing 1997
  • Rainer Boss, Das Apotheosen-Konzept der Achten Symphonie Anton Bruckners, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 2001–2005, S. 343–353

RAINER BOSS, CLEMENS GUBSCH

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 23.6.2020

Medien

Kategorien

Links

ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft