Gericke, Wilhelm

* 18.4.1845 Graz, Steiermark/A, † 27.10.1925 Wien/A. Dirigent und Komponist.

Er stammte aus einer in Schwanberg in der Weststeiermark ansässigen Familie. Der Vater Friedrich (1810–1869) war Sohn eines Wiener Handwerkers norddeutscher Abkunft und wanderte als Handelslehrling nach Schwanberg, wo er durch Heirat ein Haus erwarb. Aus seiner zweiten Ehe mit Katharina Spitzy stammte Wilhelm nebst drei weiteren Kindern.

Schon als Kind legte er verschiedene Talentproben ab, doch wollten die Eltern ihn zum Handel bringen und schickten ihn in eine Grazer Schule, ließen ihn aber schließlich nach unangenehmen Auseinandersetzungen Violine bei einem Theatermusiker lernen. Nach Intervention eines verwandten Arztes und der Stiefgroßmutter konnte er sich am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (GdM) einschreiben. Hier war er 1862–1865 Schüler von Simon Sechter und Felix Otto Dessoff. Noch vor Abschluss des Studiums nahm er ein Angebot als Theaterkapellmeister in Laibach (Ljubljana/SLO) an. Es folgten Engagements in Triest, Kronstadt (Brașov/RO), Rostock, Basel und Budapest. 1868 wurde er auf Empfehlung Dessoffs erster Kapellmeister in Linz, wo er sechs Jahre blieb und auch seine ersten Kompositionen – für die Liedertafel „Frohsinn“, deren Chormeister er 1870 kurzzeitig war – schrieb. Auf eine weitere Empfehlung Dessoffs wurde er 1874 zum Probedirigieren an die Wiener Hofoper geholt, welches er mit Charles Gounods (1818–1893) Faust absolvierte. Während seines Wirkens an diesem Haus betreute er neben Dessoff und dessen Nachfolger Hans Richter das Giuseppe Verdi- und Richard Wagner-Repertoire (u. a. die Pariser Fassung des Tannhäuser), leitete aber auch 1875 die Uraufführung von Karl Goldmarks Königin von Saba.

In den Saisonen 1880/81 bis 1883/84 war er auch Dirigent der Gesellschaftskonzerte und des Singvereins der GdM. 1884 wurde er von Henry Lee Higginson (1834–1919), der 1881 das Boston Symphony Orchestra gegründet hatte, für dieses Ensemble engagiert. Zum Abschied erhielt er die Ehrenmitgliedschaft der GdM. In Boston verstand er sich durch seine exakte und beharrliche Arbeit zu behaupten, so dass Higginson beim Abschied 1877 sagen konnte „Mr. Gericke made our orchestra.“ (Burk, S. 176). In Wien übernahm er 1890 wieder die Gesellschaftskonzerte, die er bis zur Saison 1894/95 leitete. In dieser Zeit führte er das Te Deum (20.12.1891), den Psalm 150 (Uraufführung am 13.11.1892) und die Messe in f-Moll (4.11.1895), aber keine Symphonie Bruckners auf. Es gelang ihm jedoch nicht, an die erfolgreiche Epoche seines Vorgängers Richter anzuknüpfen, was auch zu einem Rückgang des Besuches der Konzerte führte. Vermutlich aus diesem Grund, angeblich wegen einer wohl damit zusammenhängenden feindseligen Kritik 1895 bat er um seine Enthebung.

1896/97 war er in Dresden, dann wieder in Wien. Auf ein neuerliches Angebot Higginsons ging er wieder nach Boston, wo er 1898–1906 wirkte. Nach dem Ende der Saison im Mai 1906 kehrte Gericke nach Wien zurück, wo er wieder an der Hofoper neben Wilhelm Jahn und Richter dirigierte, jetzt zuständig für französische Spielopern, für Werke von Giacomo Meyerbeer (1791–1864), Verdi und Goldmark. Nach einem Konflikt mit Jahn zog er sich offensichtlich gänzlich zurück, da es in einem Nachruf heißt, sein Ende sei still gewesen wie sein Lebensabend (Neue Freie Presse 31.10.1925, S. 7). Der Erste Weltkrieg war in mehrfacher Hinsicht ein schwerer Schlag für ihn, vor allem da seine beiden Hauptwirkungsstätten jetzt in feindlichen Lagern standen, und auch wegen des Endes der Monarchie. Infolge der Inflation verarmte er; das Boston Symphony Orchestra gab für ihn ein Benefizkonzert und versorgte ihn mit Lebensnotwendigem.

Gericke schätzte sowohl Johannes Brahms als auch Bruckner, was diesen allerdings argwöhnisch gemacht haben soll. Schon anlässlich der Jubelfeier zum 25-jährigen Bestand der Liedertafel „Frohsinn“ am 15.5.1870 dirigierte Gericke Bruckners Männerchor Um Mitternacht (WAB 89). Er förderte dann als Dirigent sowohl in Wien als auch in Amerika die Pflege der Werke Bruckners. In Boston führte er am 5.2.1887 die Siebente Symphonie auf, eine der ersten Bruckner-Aufführungen in Amerika (Rezeption); es folgten die Dritte, Vierte, Fünfte und Neunte.

Die Aufführung des Te Deum im Gesellschaftskonzert vom 20.12.1891 veranlasste Bruckner zu einem Vergleich mit der Aufführung unter Siegfried Ochs am 31.5.1891 in Berlin und einer abfälligen Bemerkung über Gericke: „Und Sie wollten sich, etwa vom H. Gericke dirigiert, etwas anhören? Nie und nimmermehr.“ (Briefe II, 920203, Bruckner an Ochs). Die Aufführung war allerdings, wie Bruckner selbst mitteilte, ein Erfolg.

Im Jahr darauf wurde Bruckner eingeladen, ein Chorwerk für die Eröffnung der Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen 1892 in Wien zu komponieren. Der daraufhin entstandene Psalm 150 wurde aber nicht rechtzeitig fertig, und Gericke ersuchte Bruckner am 19.5.1892 um Überlassung des Werkes für ein Gesellschaftskonzert (Briefe II, 920519). Nachdem über eine Aufführung innerhalb der Ausstellung verhandelt wurde (wobei ebenfalls Gericke hätte dirigieren sollen), kam es schließlich am 13.11.1892 zur Uraufführung des Werkes in einem Gesellschaftskonzert, die allerdings keinen besonderen Erfolg hatte; Göllerich-Auer sprechen von „Unsicherheit des Chores“, „vergriffenen Tempi“ und „Farblosigkeit des Orchesters“ (Göll.-A. 4/3, S. 275), obwohl Gericke zum Einstudieren ungewöhnlich viel Zeit aufgewendet habe.

Gericke dirigierte im Rahmen der Gesellschaftskonzerte das Te Deum am 15.4.1894 und die Messe in f-Moll am 5.11.1894 (als nachträgliche Feier zu Bruckners 70. Geburtstag). Die letzte Aufführung wurde zu einem Triumph für den Komponisten, der sich dabei besonders über die Zustimmung des beim Konzert anwesenden Brahms freute. Am 9.11.1894 bedankte sich Bruckner beim Vizepräsidenten der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Adolf Koch von Langentreu (1829–1920), und bat, diesen Dank auch an den Dirigenten und die Ausführenden weiterzuleiten (Briefe II, 941109), wobei auffällt, dass er Gericke nicht mit Namen nannte.

Gericke pflegte sowohl die Werke von Brahms als auch Bruckner, zog dabei aber persönlich offensichtlich Brahms vor (über seine Tätigkeit in Amerika heißt es: „Boston had no choice but to become a Brahms center“, Burk, S. 181). Er galt als verlässlicher Musiker, dessen Stärke das gewissenhafte Erarbeiten der von ihm dirigierten Werke war. Für die Zuseher sei sein Dirigieren mehr korrekt als mitreißend gewesen (Burk, S. 173f.).

Literatur

THEOPHIL ANTONICEK, INGRID FUCHS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 17.1.2020

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Normdaten (GND)

Gericke, Wilhelm: 122445643

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