Richter, Hans (eigentl. Johann Baptist Isidor)

* 4.4.1843 Raab/Ungarn (Györ/H), † 5.12.1916 Bayreuth, Bayern/D. Dirigent.

Sohn des Domkapellmeisters Anton Richter (1802–1854), der sich große Verdienste um Musikleben und Musiker in Raab erworben hat. Seine Mutter Josefa (1822–1892) war Sängerin (Venus in der Wiener Erstaufführung des Tannhäuser). 1853 kam er nach Wien, wurde Hofsängerknabe und studierte 1860–1865 am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Violine, Horn (bei Wilhelm Anton Kleinecke [* 21.10.1825 Wien/A, † 2.4.1893 Wien]) und Musiktheorie (Simon Sechter). Er substituierte in verschiedenen Orchestern, kam ans Theater in der Josefstadt und war 1862–1866 Hornist am Theater am Kärntnertor und bei den Wiener Philharmonikern. 1865 Debut als Kapellmeister in Raab. Als Richard Wagner im August 1866 einen „engagierten tüchtigen Musiker als Sekretär“ suchte, der eine Druckvorlage der Meistersinger von Nürnberg erstellen sollte, wurde Richter von Heinrich Esser (1818–1872) empfohlen. Bei der Familie Wagner in Tribschen fand er freundliche Aufnahme und war 1870 sogar Trauzeuge bei der Hochzeit Wagners mit Cosima. Nach Beendigung der Arbeit empfahl ihn Wagner als Korrepetitor an das königliche Theater in München, wo er den Chor für die Uraufführung der Meistersinger von Nürnberg einstudierte. Im August 1868 Debut als Dirigent an der Münchner Hofoper mit Wilhelm Tell. Als er sich 1869 weigerte, die gegen den Willen Wagners angesetzte Uraufführung von Rheingold zu dirigieren, entließ ihn der darüber wütende König Ludwig II. 1871–1875 war Richter Kapellmeister und Direktor des Nationaltheaters in Budapest. Am 24.1.1875 feierte er sein Wiener Dirigentendebut mit einem Konzert der Wiener Philharmoniker zugunsten des Bayreuther Festspielhauses mit Werken von Wagner und Franz Liszts Faust-Symphonie, bei der Bruckner die Orgel spielte. Im gleichen Jahr wurde er als Nachfolger Felix Otto Dessoffs an die Wiener Hofoper, wo er am 1.5.1875 mit den Meistersingern sein Amt antrat, und zur Leitung der Philharmonischen Konzerte berufen. Letztere hatte er mit einer Unterbrechung 1882/83 bis 1898 inne. 1880–1890 Dirigent der Gesellschaftskonzerte der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Seit 22.11.1877 Vize- und von 20.9.1893 bis Ende März 1900 kaiserlicher Hofkapellmeister. Sein Abgang von dieser Institution hängt wohl mit der Umorganisation der Hofmusik zusammen, die praktisch deren Ende als höfische Institution bedeutete. Zur Wiener Tätigkeit kam sein Wirken in Bayreuth, wo er bei der Eröffnung des Festspielhauses den Ring des Nibelungen dirigierte und 1876–1912 ständiger Festspieldirigent war, und England. Hier leitete er 1879–1897 die „Richter Concerts“ in London, 1885–1909 die Musikfeste in Birmingham, ferner das Hallé-Orchestra in Manchester. 1911 kehrte er auf den Kontinent zurück und verbrachte seinen Lebensabend in Bayreuth, wo er sich mit einer exemplarischen Aufführung der Meistersinger 1912 verabschiedete.

Richter, einer der international bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit, überzeugte durch seine sichere Schlagtechnik, seine aus der Praxis stammende Kenntnis der Orchesterinstrumente und die gründliche Beherrschung der Partitur genauso wie durch seine starke Persönlichkeit, seine ursprüngliche Musikalität und seine hingebungsvolle Begeisterung für von ihm bevorzugte Werke von Ludwig van Beethoven bis zu seinen Zeitgenossen. Vor allem für die Wiener Philharmoniker war er eine prägende Persönlichkeit: „Es gibt in der Geschichte der Wiener Philharmoniker keinen Dirigenten, der das Orchester so nachhaltig prägte wie Hans Richter“, der für das Orchester das „goldene Zeitalter“ begründete (Hellsberg, S. 208).

Richter war seitens der Brucknerianer und Bruckner selbst teilweise heftigen Angriffen ausgesetzt, weil er zu wenige Bruckner-Werke aufführe. Er hat sich gelegentlich dagegen zur Wehr gesetzt. 1881 nahm er die Wiener Philharmoniker in Schutz, als diese in einem Artikel über Bruckner angegriffen wurden. In einer öffentlichen Polemik mit Karl Grunsky nahm Richter ebenfalls zu entsprechenden Vorwürfen Stellung: „Ein Einblick in die Programme der Wiener philharmonischen Konzerte wird beweisen, dass keine Konzertgesellschaft der Welt so oft und so viele Werke Bruckners zur Aufführung brachte, als die Philharmoniker während der Zeit meiner Wirksamkeit in Wien, von 1875–1899. Bruckner hat dies mündlich und schriftlich anerkannt; [...] Ich behaupte, dass auch keiner meiner dirigierenden Kollegen so viel und oft Bruckner dirigierte, als ich in den Jahren meiner Wiener Tätigkeit; jetzt mag mir Bruckners vortrefflicher Schüler, Ferdinand Löwe, nachgekommen sein. Ich habe Bruckner auch in England mit gutem und stets wachsendem Erfolge eingeführt: keine Season ohne ein Bruckner‘sches Werk“ (Richter, S. 167). Die letzte Angabe wird von Göll.-A. (4/2, S. 530f.) in Zweifel gezogen: außer der Siebenten am 23.5.1887 sei nur noch eine Aufführung der Dritten am 29.6.1891 bekannt geworden. Die Suche nach Bruckner-Aufführungen durch die Wiener Philharmoniker unter Richter in der Archivdatenbank des Orchesters ergab keinen Treffer (www.wienerphilharmoniker.at/konzerte/archive [7.12.2018]).

Die kritische bis feindselige Haltung der Brucknerianer, die auch bei Göll.-A. spürbar ist, war sicherlich auch stark vom Neid auf Johannes Brahms bestimmt, den Richter tatsächlich öfter aufführte als Bruckner. Dieser war diesbezüglich besonders empfindlich und äußerte sich oft übersteigert. „Der Brahms-Cultus erreicht hier nachgerade das Unglaublichste. Hans Richter in vorderster Reihe!!! behauptete, die neue Richtung hätte im Conzert gar keine Berechtigung, u. getraut sich (wegen Hanslick) nicht einmal etwas von mir ins Programm zu nehmen!“ (Bruckner an Hans Paul Freiherr von Wolzogen, Briefe II, 890101/2); den letzteren, wohl nicht ganz von der Hand zu weisenden Vorwurf erhob er des Öfteren, etwa „Er bläst in Hanslicks Horn!“ (Bruckner an Rudolf Krzyzanowski, Briefe I, 840505). Trotzdem bleibt Richter das Verdienst, vor 1900 die meisten Bruckner-Aufführungen geleitet zu haben, meist tatsächlich erst nach den Erfolgen Bruckners außerhalb Wiens. Richter hatte dabei teilweise erhebliche Schwierigkeiten mit seinem Orchester. Nachdem die Wiener Philharmoniker, noch unter Dessoff, Bruckners Angebot der Widmung der Zweiten ignoriert hatten, verfasste Richter 1875 einen Briefentwurf zur Annahme, der allerdings nicht abgeschickt wurde.

Mit einem Werk Bruckners war Richter 1874 konfrontiert, als er mit R. Wagner die diesem gewidmete Dritte Symphonie durchging (Bruckner erfuhr davon durch Cosima Wagner, Briefe I, 740624). Nachdem dieses Werk von den Wiener Philharmonikern dreimal abgelehnt worden war, setzte Richter schließlich die Vierte Symphonie gegen den Willen des Orchesters auf das Programm: Diese Uraufführung der Vierten am 20.2.1881 wurde zu einem sensationellen Erfolg (weitere Aufführungen am 22.1.1888 gemeinsam mit dem Te Deum und am 5.1.1896). Als jedoch die Wiener Philharmoniker unter Richter die Siebente nach deren erfolgreicher Leipziger Uraufführung (1884) in ihre Abonnementkonzerte aufnehmen wollten (bei Göll-A. 4/2, S. 362 wird das so dargestellt, dass Richter sich wegen der Erfolge des Werkes im Ausland dazu „gezwungen“ gesehen habe), bat Bruckner davon Abstand zu nehmen, weil er sich das Werk „nicht durch H Hanslick etc. ruiniren“ lassen wolle; Richter solle eine „schon ruinirte“ aufführen (an Hermann Levi, Briefe I, 850410/1). Trotzdem Bruckner insistierte, setzte sich Richter darüber hinweg und errang am 21.3.1886 mit der Wiener Erstaufführung der Siebenten einen eindrucksvollen Erfolg (weitere Aufführungen unter Richter am 23.5.1887 in London, am 24.2.1889 und 8.11.1896 in Wien).

Am 21.12.1890 dirigierte Richter die Uraufführung der umgearbeiteten Dritten Symphonie (3. Fassung), die aufgrund des allzu lauten Jubels der Bruckner-Anhänger auch den Widerspruch der Kritiker provozierte (weitere Aufführungen am 25.1.1891 in Wien und am 29.6.1891 in London). Am 13.12.1891 dirigierte Richter schließlich die erste Aufführung der „Wiener“ Fassung der Ersten. Die Achte Symphonie hatte Bruckner zuerst Levi und schließlich in der 2. Fassung Felix Weingartner angeboten, obgleich sich die Wiener Philharmoniker – wohl unter dem Druck der öffentlichen Meinung – um Bruckners Gunst bemühten; Richter war zum Erstaunen des Komponisten von dem Werk begeistert und leitete am 18.12.1892 in Wien mit triumphalem Erfolg die 1. Aufführung der 2. Fassung der Achten, wofür sich Bruckner voll überströmender Begeisterung bedankte. Am 25.11.1894 schließlich spielten die Wiener Philharmoniker unter Richter die Zweite Symphonie.

Richters impulsive Begeisterungsfähigkeit äußerte sich mehrfach auch an Werken Bruckners. Von verschiedenen Symphonien wird erzählt, dass Richter Bruckner mit verschiedenen Ausdrücken der Begeisterung um den Hals fiel: Mit der Partitur der Ersten sei er danach davongelaufen, mit der Absicht sie einzustudieren und aufzuführen (Bruckner an Leopold Hofmeyr, Briefe II, 891111), über die Vierte meinte er „So etwas ist seit Beethoven nicht mehr geschrieben worden. Bruckner, Sie sind verkannt“ (Göll.-A. 4/1, S. 418f., S. 632), und eine ähnliche Äußerung Richters wird auch über den 1. Satz der Siebenten überliefert. Dass Bruckner davon stark beeindruckt war, zeigt sein Bericht darüber an Wilhelm Tappert, wobei er diesem die Stelle auf seiner Schulter zeigte, wo Richter gelegen sei. Klavieraufführungen von Symphonien Bruckners durch Josef Schalk und Ferdinand Löwe sollen Richter zu Tränen gerührt haben. Nach der Aufführung der Achten 1893 pfiff Richter nach Bruckners Bericht (an Levi, Briefe II, 930114) immer Motive daraus (Bruckners Kommentar: „Weh, wenns Hanslick erfährt!“) und erklärte Bruckner zum ersten Symphoniker nach Beethoven (Bruckner an Gustav Mahler, Briefe II, 930407).

Der barsche und oft sehr direkte Umgangston des Dirigenten hat Bruckner offensichtlich eingeschüchtert. Bruckner erzählte von der Einstudierung der Siebenten „I‘ hab‘ ‘n Richter g‘sagt: das is‘ ja gar nöt so. Dös Tempo hab‘ i‘ ja gar nöt so g‘moant. – Da hat er mir zur Antwort göb‘n: ,Das muß ich versteh‘n!‘“ (Göll.-A. 4/2, S. 429), was auch eine ungeduldige Momentreaktion auf Bruckners sicherlich reichlich devote und umständliche Erklärungsweise sein kann. Bruckner betonte gegenüber Wolzogen den Unterschied zu Levi, der auf jedes Zeichen Bruckners reagierte: „Welch Abstand von H. Richter, der mich noch vor 14 Tagen als verrückten Menschen ohne Form erklärt haben soll“ (Briefe I, 850318). Auf einen Bericht J. Schalks von Bruckners quälenden Einwendungen bei Proben habe Richter zu Bruckner gesagt: „Sie sollten überhaupt nur schreiben; wenn sie nicht komponieren, sind sie unausstehlich!“ (Briefe II, 930415).

Verschiedene Äußerungen Bruckners über Richter zeugen von Misstrauen. Bruckner schickte Richter Partituren nach England; wenn er sie nach Reklamation zurückerhielt, erkannte er, dass sie nicht angesehen worden waren. „Herr Richter hat nichts aufgeführt war doch Hanslick in London!“ (Bruckner an Levi, Briefe I, 860709/4). Sogar bei Erzherzogin Marie Valerie zog er über Richter her, er mache alles nur für die Journalisten. Manche Brucknerianer griffen Richter teilweise recht hart an: u. a. beschuldigte ihn Josef Kluger, Bruckners Symphonien zwar „glatt und gut“ zu interpretieren, „aber der volle Bruckner, wie ich ihn selbst von einem weniger vollendeten Orchester unter Löwe oder Göllerich gehört habe, war es nicht“ (Göll.-A. 4/3, S. 282). Möglicherweise hat sich diese Einstellung zumindest bei Bruckner selbst später geändert. Immerhin hat er Richter (neben Felix Mottl) in seiner Rede beim Festbankett der Liedertafel „Frohsinn“ in Linz 1886 nach Arthur Nikisch und Levi als einen seiner „Vormünder“ (Fuchs, S. 65) bezeichnet.

Richters Einschätzung des Menschen Bruckner kommt in seinem Bericht über die Audienz Bruckners beim Kaiser, zu der er ihn, offensichtlich als Hofkapellmeister und Vorgesetzter des Hoforganisten, begleitete, zum Ausdruck. Bruckner habe dabei mit so gewählten und rührenden Worten gesprochen, wie er sie ihm nie zugetraut hätte. Richter erzählte mit Vorliebe Anekdoten über Bruckner oder verstand es, den naiven Komponisten durch provozierende Äußerungen außer Fassung zu bringen. So meinte er zum 2. Satz der Ersten „Da warn‘s aber sehr verliebt, wie‘s das g‘schrieben hab‘n!“, was Bruckner immerhin noch mit „Ja, Herr Hofkapellmeister, das war i‘ ja allweil!“ (Göll.-A. 3/1, S. 339) parierte. In Bayreuth erzählte Richter August Göllerich die Geschichte von Johann Herbeck und Bruckner auf der Terrasse des Hotels Krebs in Linz, als Bruckner beim Aveläuten dreimal den Hut zog und als Grund dafür die angebliche Hitze vorschob. Beim Einstudieren der Vierten habe Richter den anwesenden Bruckner bei einer bestimmten Stelle gefragt, um welche Note es sich hier handle, worauf Bruckner antwortete: „Ganz wie Sie wünschen, Herr Hofkapellmeister!“ (Göll.-A. 4/1, S. 633).

Bei der Abreise Bruckners von einem Ausflug nach Naßwald blies Richter, ein guter Hornist, mit dem Horn des Postillons, „im Nasswalder Costum“ das Scherzo-Thema der Siebenten (Bruckner an Levi, Briefe II, 870904), ein anderes Mal soll er im Zuge eines Ausflugs von Bruckner und seinen Freunden in die Hinterbrühl das Thema der Vierten geblasen haben, was Bruckner außerordentlich freute (Göll.-A. 4/1, S. 419).

Das Streichquintett in F-Dur nahm Richter nach London mit, um dort einen Verleger zu finden, was allerdings nicht gelang und zur fatalen Folge hatte, dass Bruckner erst wieder nach Jahren in den Besitz des Werkes gelangte. Nach der Aufführung der Siebenten 1886 hielt Richter bei einem Festbankett des Wiener Akademischen Wagner-Vereins eine Ansprache, in der er ausführte, dass das tiefe Misstrauen der Musiker gegen Bruckner ins Gegenteil umgeschlagen sei; er versprach, in Hinkunft jede neue Symphonie aufzuführen. Diese Rede reizte Max Kalbeck zu einem höhnischen Artikel, in dem er ausführte, Richter werde jetzt nichts übrigbleiben als rasch die ersten sechs Symphonien aufzuführen „auf die Gefahr hin, die leeren Bänke des Auditoriums zu der neuen Heilsbotschaft zu bekehren“ (Die Presse 3.4.1886, S. 2).

Beim Begräbnis Bruckners dirigierte Richter das Adagio der Siebenten in einer Blasmusikfassung von Löwe, am 8.11.1896 im ersten Philharmonischen Konzert die Siebente zum Andenken.

Schriften
Literatur

THEOPHIL ANTONICEK, INGRID FUCHS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 14.12.2018

Medien

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Abbildungen

Abbildung 1: Musikalisches Wochenblatt 13 (1881) H. 1, S. 7

Abbildung 2: Neue Zeitschrift für Musik 103 (1936) H. 10, S. 1192/2

Normdaten (GND)

Richter, Hans (eigentl. Johann Baptist Isidor): 118744984

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ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft