Volksmusik
Das volksmusikalische Umfeld in Bruckners Jugend war wie in jedem anderen österreichischen Dorf in erster Linie von der ungebrochenen Tradierung des Ländlers geprägt. Diese Hauptform der Volksmusik in Österreich und ihre melodischen Parallelen in Jodler und Lied bilden den stilkundlichen Hintergrund für eine diesbezüglich mögliche Sozialisierung Bruckners.
Die Belege zur musikalischen Sing- und Spielpraxis im Familienkreise Bruckners betreffen zwar mehrheitlich das pädagogische Hinführen des Kindes Anton zu den „Elemente[n] des Gesanges, des Violin- und Orgelspiels sowie der Musiktheorie an Hand der täglichen kirchenmusikalischen Praxis“ (Wessely, S. 36), daneben müssen aber auch alle Arten von überlieferten Lied- und Tanzformen angenommen werden, welche in gelebter örtlicher Tradition damals in den Dörfern erklangen (Tanz und Tanzmusik). Diese Tatsachen bestätigen sich für Ansfelden, Hörsching, Windhaag, Kronstorf, St. Florian und sogar für Linz. Wie weit die dörfliche Musik einen tatsächlichen oder projizierten Anteil am Kunstcharakter seiner viele Jahre später entstandenen Werke hatte, ist zum Grundthema mancher analytischer Untersuchungen (Analyse) geworden.
Es sind verzeihbare, aber wissenschaftlich unerfüllbare Wünsche von Musikologen, welche im Werk Bruckners volksmusikalische Charakteristika suchen, zu sehen glauben und benennen, welche aber als Widerspiel in der Volksmusik Oberösterreichs und Österreichs nicht existieren. Aus der Unfähigkeit, die Eigenprägung der melodischen Gestalten Bruckners musikologisch zu deuten, wird der Begriff „Ländler“, wie im Fall des Trios aus der Vierten Symphonie, zu einem absurden Symbol für eine Musik emporgehoben, welche stilistisch einem gänzlich anderen Bereich des musikalischen Schaffens angehört. Die exzeptionelle Einzigartigkeit der melodischen Linienführung Bruckners ist von allen musikalischen Kriterien weit entfernt, welche Volkstümlichkeit evozieren. Weder stilistisch noch musikalisch-technisch kann in seinen Chorwerken und Messen und auch nicht in seinen Symphonien ein melodischer Bezug zu volksmusikalischen und volkstümlichen Tongestalten festgestellt werden. Dennoch finden sich einige wenige Ausnahmen, denen unter Umständen eine gewisse „volksmusikalische“ Nähe zugesprochen werden kann: Das um 1850 entstandene Widmungswerk Steiermärker, ein ursprünglich Aloisia Bogner gewidmetes Klavierstück in deutlicher Nachahmung einer verbreiteten alpenländischen Volksweise, wäre hier ebenso zu nennen wie diverse Polka- und Walzervertonungen aus dem sogenannten Kitzler-Studienbuch. Auch wenn letztere in erster Linie dem Kompositionsstudium dienten, können sie „volkstümliche“ Züge nicht leugnen. Anzuführen ist ebenso eine kleine Liedersammlung, die Bruckner in den frühen 1850er Jahren für Aloisia Bogner anlegte (Der Mondabend, Aennchen von Tharau, Aus dem Zauberschleier, Walzer [WAB add 321]). Diese beinhaltet – z. T. von ihm selbst bearbeitete – Lieder, die als „volkstümlich“ bezeichnet werden können. Gleichwohl dürfte ihm der Zugang zu ebensolcher Ensemble- bzw. Chormusik nicht fremd gewesen sein, die er mit seinem Florianer Quartett aber auch als Chormeister der Liedertafel „Frohsinn“ zur Aufführung brachte. Darüber hinaus darf man durchaus einige seiner frühen geistlichen Werke als „Ländliche Gebrauchsmusik“ verstehen (z. B. Totenlieder).
Bruckner war u. a. zwei Jahre als Lehrergehilfe in Windhaag bei Freistadt tätig und dabei auch als „Landlergeiger“ an der dörflichen Tanzmusik aktiv beteiligt. Musikalienbestände aus seinem dortigen Umfeld, ja vielleicht sogar aus seinem Besitz, erlauben detaillierte Einblicke in sein damaliges Musizieren: Mit den ortseigenen Musikanten lernte er den Mühlviertler Landler in allen Varianten der melodischen Gestaltung, des Spielstils und der choreografischen Ausführung durch die Dorfleute kennen. Konnte aber der heranreifende Komponist, der zweifellos recht gut wusste, wohin ihn seine musikalische Karriere führen sollte, primäres Interesse für die stilistisch auf einer gänzlich anderen Ebene der Musikkultur wirkenden Kleinformen der Dorfmusik aufbringen? Wenn ja, dann nur als Mittel zum Zweck, um die von ihm angestrebten Ziele zu erreichen. Allein Richard Wagners Opern, die Kirchenmusik seiner Zeit und die Orgel beflügelten seine musikalischen Fantasien. Verhalten, Denken und Schaffen unterstreichen zumindest in künstlerischer Hinsicht eine Distanzierung von seiner Herkunft sowie eine Negierung jeglicher Verbindung mit der „Landmusik“.
Tiefe Religiosität (Persönlichkeit) und die ihm anerzogene devote Grundhaltung bildeten für Bruckners einfaches Denken die wesentliche geistige Lebensstütze. „Ohne Zweifel ist gerade im Schoße seiner Einfachheit die große Wucht seiner Andacht geboren und das kräftige, ganz unverdorbene Pathos seiner Tonsprache“ (Schenker, S. 167). Auch Leopold Nowak unterstreicht dies mit der Feststellung: „Er trug seine eigene Welt in sich, sein Künstlertum, und darin war er nicht seiner Zeit verhaftet, nicht den Jahren seiner Geburt, noch denen seines Reifens“ (Nowak, S. 9).
Österreichische Musikliebhaber spüren in Bruckners Symphonien eine hohe, individuell erfundene und gestaltete „Österreichische Musik“. Was viele als eine ihnen wesensnahe Musik empfinden, erfuhr noch keine adäquate und aufschlussreiche Beschreibung. Dieses Österreichische in der Musik, dem das Bruckner‑Symposion 1993 gewidmet war, „wird als eine Veranstaltung in unserer Erinnerung bleiben, bei der wir trotz aller Bemühungen zu keinem abgeschlossenen Ergebnis gelangen konnten“ (Maier 1997, S. 182).
Es grenzt ans Unmögliche, das eigentümlich Österreichische in Bruckners Symphonien mit Worten zu erfassen: „Hier geht es um mehr als den Nachweis von Einfluß und Tradition, von Ursprung in einem bestimmten Menschentum, einer bestimmten Landschaft; es geht um etwas, das dem Menschentum, der Landschaft seines Ursprungs zugleich eine neue Prägung gibt und sie so gewissermaßen neu schafft.“ (Zuckerkandl, S. 544).
Literatur
- Franz Xaver Osterrieder, Die Abensberger Hundsbuckel-Musikanten. Die Bayerischen Tänze und Anton Bruckner, Separatum aus: Heimatklänge – Beilage des Hallertauer General-Anzeigers (1931) H. 5 (28.2.1931) S. 1–12, H. 6 (7.3.1931) und H. 12 (10.6.1931), S. 85–96
- Friedrich Eckstein, „Alte unnennbare Tage“. Erinnerungen aus siebzig Lehr- und Wanderjahren. Wien–Leipzig–Zürich 1936, S. 156f.
- Heinrich Schenker, Über Anton BrucknerLeopold Nowak, Über Anton Bruckner. Gesammelte Aufsätze 1936–1984. Wien 1985, in: Der Dreiklang. Monatsschrift für Musik (1937) H. 7, S. 166–176
- Viktor Zuckerkandl, Der Geist der Musik, in: Otto Schulmeister (Hg.), Spectrum Austriae. Wien 1957, S. 524–553
- Ernst Hamza, Der Ländler (Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 9). Wien 1957
- Bruckner. Musik und LebenLeopold Nowak, Anton Bruckner. Musik und Leben. Linz 1973
- Manfred Wagner, Die Melodien Bruckners in systematischer Ordnung. Ein Beitrag zur Melodiegeschichte des 19. Jahrhunderts. 2 Bde. Diss. Wien 1970
- Rudolf Flotzinger, Ländler, in: Hans-Heinrich Eggebrecht (Hg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie 3. Wiesbaden 1976, S. 1–5
- Herbert Wieninger, Charakteristische Stilelemente in der Symphonik Anton Bruckners, in: Anton Bruckner in Lehre und Forschung. Symposion zu Bruckners 150. Geburtstag 1974 (Veröffentlichung der AGMÖ 7). Regensburg 1976, S. 25–32
- Othmar Wessely, Beharrung und Fortschritt im Schaffen des jungen Bruckner, in: Bruckner‑Symposion 1977Franz Grasberger (Hg.), Bruckner-Symposion im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1977. 22.–23. September 1977. Bericht. Linz 1978, S. 35–42
- Elisabeth Maier, Anton Bruckners Frühwerk – Einflüsse und Vorbilder, in: Bruckner und ZenettiElisabeth Maier/Franz Zamazal, Anton Bruckner und Leopold von Zenetti (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 3). Graz 1980, S. 127–161
- Franz Eibner, Grundsätzliches zur Typologie der österreichischen Volksmusik, in: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 29 (1980), S. 34–38
- Walburga Litschauer, Bruckner und das romantische Klavierstück, in: Bruckner‑Symposion 1987Bruckner-Symposion. Bruckner und die Musik der Romantik. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1987. 16.–20. September 1987. Bericht. Hg. v. Anton Bruckner Institut Linz/Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH. Linz 1989, S. 105–110
- Walter Deutsch, Ein Ländlersammlung aus Windhaag, in: Bruckner‑Symposion 1987Bruckner-Symposion. Bruckner und die Musik der Romantik. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1987. 16.–20. September 1987. Bericht. Hg. v. Anton Bruckner Institut Linz/Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH. Linz 1989, S. 120–152
- Helga Thiel/Gerda Lechleitner/Walter Deutsch, Anton Bruckner – sein soziokulturelles Umfeld, seine musikalische Umwelt, in: Bruckner‑Symposion 1987Bruckner-Symposion. Bruckner und die Musik der Romantik. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1987. 16.–20. September 1987. Bericht. Hg. v. Anton Bruckner Institut Linz/Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH. Linz 1989, S. 111–119
- Wolfram Tuschner, Josef Jobst: Bruckner-Schüler, Landlergeiger und Tanzkapellmeister, in: OÖ. HeimatblätterOberösterreichische Heimatblätter. Linz 1947ff. 47 (1993) H. 3, S. 217–228
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- Volker Derschmidt/Walter Deutsch, Der Landler (Corpus Musicae Popularis Austriacae 8). Wien 1998
- Klaus Petermayr: „Dirndl merk dir den Bam“. Zur Verwendung eines Volksliedes in Bruckners „Steiermärker“, in: Bruckner-JahrbuchBruckner-Jahrbuch. (Wechselnde Herausgeber). Linz 1980ff. 2001–2005, S. 293–296
- Klaus Petermayr (Hg.), „Bruckner“–Landler. Tanzmusik aus Windhaag bei Freistadt (OÖ. Schriften zur Volksmusik 8). Linz 2009
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- NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet) XXV (2014)
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- Klaus Petermayr, Anton Bruckners Klaviermusik: Kontext und Überblick, in: Bruckner-Tagung 2015Andreas Lindner/Klaus Petermayr (Hg.), Bruckner-Tagung Kremsmünster 2015. Die Klaviermusik Anton Bruckners. Kremsmünster, 11. und 12. Juni 2015. Bericht (Bruckner-Vorträge). Linz 2016, S. 11–27