Takt, Metrum, Tempo, Agogik

Die Symphonien Bruckners beschränken sich auf wenige, klassische Taktarten: Die Ecksätze sind in der Regel Alla Breve; Ausnahmen bilden lediglich die Erste (beide Ecksätze 4/4), der Kopfsatz der Zweiten und die Ecksätze der annullierten Symphonie in d‑Moll (4/4; Finale zusätzlich mit langsamer Einleitung im 12/8). Taktwechsel innerhalb einzelner Sätze kommen bei Bruckner nur selten vor: In manchen langsamen Sätzen gibt es Komplexe im 3/4‑Takt (Erste, Dritte, Siebente, Achte) oder Wechsel in den verwandten 12/8‑Takt (Zweite, Fünfte, Siebente, Achte). Selten haben Sätze in Alla Breve auch Partien im 4/4‑Takt (Kopfsätze der Siebenten und Neunten, Finalsätze der Vierten und Neunten). Die Scherzo-Sätze stehen in der Regel im 3/4‑Takt; nur das Scherzo der 2. Fassung der Vierten steht im 2/4‑Takt. Der 2/4‑Takt kommt auch in einigen Trios vor (Fünfte, Sechste, Achte; ausgeschiedene frühe Trios zur Neunten); nur das letztgültige Trio zur Neunten ist im 3/8‑Takt notiert. Die langsamen Sätze sind fast alle im 4/4‑Takt; nur das Adagio der Fünften ist Alla breve. Unregelmäßige Taktarten kommen bei Bruckner überhaupt nicht vor.

Bei Bruckner lassen sich zwar Sätze mit einem Tempo, zwei oder drei Tempi unterscheiden; in der Regel ist das Grundtempo der Themengruppen jedoch einheitlich. Es kommt nur manchmal vor, dass die 2. Themengruppe in den Ecksätzen ein anderes (meist langsameres) Tempo aufweist, namentlich im Finale der Wiener Fassung der Ersten, im Finale der Dritten und Vierten (Fassung 1880), im Kopfsatz der Sechsten und Siebenten, im Finale der Achten sowie im Kopfsatz der Neunten. Drei verschiedene Tempi für die drei Themengruppen finden sich in den Ecksätzen gar nicht, wohl aber in den langsamen Sätzen der Dritten. Zwei verschiedene Tempi für die beiden Themen finden sich in den langsamen Sätzen der Ersten und Siebenten. Darüber hinaus zeigte Bruckner gelegentlich für den von ihm „Trio“ genannten Mittelteil der Gesangsperioden ein langsameres Tempo an; auch Übergänge sind manchmal freier im Tempo. In den Scherzo-Sätzen sind die Trios in der gleichen Taktart überwiegend auch im gleichen Tempo; ein langsameres Tempo hat Bruckner selbst explizit nur in den Trios der annullierten Symphonie in d‑Moll, der Ersten und Siebenten verlangt. (Das „langsamer“ im Trio der ersten annullierten Symphonie in f‑Moll [„Studiensymphonie“] ist eine aus den Quellen nicht zu rechtfertigende Ergänzung des Herausgebers.)

Bruckners Tempo-Angaben sind überwiegend Deutsch; italienische Bezeichnungen finden sich weit seltener. Langsame Sätze sind entweder mit „Andante“ oder „Adagio“ bezeichnet. Manchmal verwendete Bruckner das Wort „Adagio“ als Gattungsbezeichnung und hat die eigentlichen Tempo-Angaben weitergehend modifiziert. Es können auch „Andante“‑Abschnitte in Adagio-Sätzen vorkommen. Die schnellste Tempo-Bezeichnung Bruckners findet sich im Kopfsatz der annullierten Symphonie in d‑Moll – „Allegro molto vivace“ im Alla Breve. Rasch ist auch der Hauptsatz des Finales der annullierten Symphonie in d‑Moll („Allegro vivace“). Ansonsten findet sich das „Allegro“ ausdrücklich noch im Finale der Symphonie in f‑Moll, im Kopfsatz der annullierten Symphonie in d‑Moll, im Kopfsatz der Ersten, Zweiten (Fassung 1872), Vierten (Fassung 1874) und Fünften sowie im Finale der Dritten. Mit „allegro moderato“ sind das Finale 1878 der Vierten, die Kopfsätze der Siebenten und Achten sowie das Te Deum bezeichnet. Schnell sind in der Regel auch die Scherzo-Sätze; nur das Scherzo der Sechsten ist ausdrücklich „Nicht schnell“. Bezeichnungen, die den Ausdruck weiter charakterisieren, kommen bei Bruckner selten vor; neben dem genannten „vivace“ (bzw. dessen deutschem Äquivalent „lebhaft“) findet sich „Majestoso“ (Kopfsatz der Sechsten), „Misterioso“ (Kopfsatz der Dritten und Neunten; 3. Thema im Adagio der Dritten); „Feierlich“ (Adagio der Zweiten, Dritten und Neunten; Finale der Achten; Kopfsatz der Neunten), „Sehr feierlich“ (Adagio der Sechsten und Siebenten) und „Feierlich langsam“ (Adagio der Achten). Dabei ist bemerkenswert, dass immerhin sechs Adagio-Sätze von Bruckner ausdrücklich „feierlich“ sind.

Wolfgang Grandjean zeigte in seiner Studie Metrik und Form bei Bruckner, in welchem Ausmaß Bruckners Musik auf musiktheoretischen Grundsätzen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wurzelt und wie Bruckner diese Grundsätze als Ergebnis eigener, künstlerischer Reflexion zur adäquaten Darstellung seiner musikalischen Vorstellungen anwendete und selbständig weiterentwickelte. Dabei stellte sich heraus, dass Bruckners Satzbau, seine Formprinzipien, Rhythmik, Metrik, Syntax, Takt und Tempo einen zusammenhängenden Komplex darstellen. Tempofragen sind bei Bruckner aus dem Gesamtverständnis dieser wissenschaftlichen Grundlagen heraus zu klären, denn das Tempo dient bei Bruckner dem musikalischen Ausdruck ebenso wie der Verdeutlichung von Syntax und Form. Besonders bedeutsam erweist sich hier der von Grandjean hergestellte Zusammenhang zwischen musikalischer Syntax und Harmonik: Er zeigte, dass Bruckner seine Umarbeitungen der Ersten bis Vierten ab etwa 1875 vor allem aus metrischen Gründen vornahm; zugleich perfektionierte er seine Baukunst in der parallel entstehenden Fünften und systematisierte seinen Gebrauch der für das Verständnis seiner Werke unerlässlichen „metrischen Ziffern“. Nach Grandjean impliziert der Begriff „metrische Ziffer“ ein quantitativ-numerisches wie auch ein qualitativ-gewichtendes Moment. „Das metrische System Bruckners ist – nicht anders als das Hugo Riemanns – hierarchisch strukturiert; es ist jedoch im Gegensatz zu diesem vom ‚Akzent des Anfangs‘ bestimmt und nicht vom Prinzip der ‚Beantwortung‘. Grundlage der Syntax ist das Modell des ,Taktes im Großen‘, die prinzipielle Möglichkeit, die Struktur des (Einzel-)Taktes quasi durch Augmentation auf höhere syntaktische Ebenen [...] zu übertragen.“ Dabei ergeben sich folgende Gesetzmäßigkeiten: 1. Der Beginn einer Taktgruppe bildet „stets den Schwerpunkt höchster Ordnung“ (Grandjean, S. 275); darunter liegende Einheiten sind minder gewichtig. Bruckners Musik pendelt in schweren (= ungeraden) und leichten (= geraden) Takten und bildet dadurch Symmetrien aus. 2. Die Harmonik, Melodik, Motivik und Rhythmik sind ebenso Parameter für die Schwerewirkungen innerhalb des syntaktischen Gefüges wie Instrumentation und Dynamik. 3. Nicht nur neue Formabschnitte oder Taktgruppen beginnen auf einem metrisch „1. Takt“; auch die Schlusstonika tritt dort ein. Der Klang hört stets auf einem schweren, also ungeraden Takt auf.

Demzufolge fällt dem Dirigenten nichts weniger als die Aufgabe zu, die Schwerpunkte der Musik in der Hierarchie der Strukturschichtungen (in einem Motiv, in einem Takt, in einer Taktgruppe, in einem Gefüge von Taktgruppen, in einem Symphonie-Satz, im viersätzigen Ganzen) anhand der Analyse nachzuvollziehen und dann klanglich realisieren zu lassen. Wesentliche Mittel zur Gestaltung solcher Gewichtungen sind Phrasierung, Artikulation und Dynamik, die der Dirigent ebenso überlegt disponieren muss wie die Durchhörbarkeit der Faktur durch Differenzierung von Haupt-, Neben-, Stütz- und Resonanzstimmen, Klangfarben und kontrapunktischer Arbeit, vor allem jedoch auch eine überlegte Disposition der Tempi. Die von Harry Halbreich 1981 zur Diskussion gestellte These, dass Bruckner ein einheitliches Tempo verlange, wurde schon ein Jahr später von Manfred Wagner unterstützt, indem er ausführlich auf die Tempoverhältnisse nach dem alten Tactus-Prinzip hinwies, die ein Bruckner-Dirigent unbedingt kennen sollte. Der Tactus, der in etwa dem menschlichen Puls entspricht, ist bei Bruckner offenbar etwas langsamer als der für Johann Sebastian Bach angenommene Grundpuls von etwa MM = 72–76. Den Rahmen setzen hier die einzigen von Bruckner in seinen Symphonien je beigegebenen Metronom-Angaben im Finale der Achten – das Anfangstempo, „Feierlich; nicht schnell“, Halbe = 69, und das Tempo der Gesangsperiode, „Langsamer“, Halbe = 60, entspricht offenbar auch dem Grundpuls der Halben im Kopfsatz der Achten, „Allegro moderato“. Dies deckt sich auch mit seinem Bild vom Ende dieses Satzes als einer „Totenuhr“, die unerbittlich weiterschlägt, nämlich einmal pro Sekunde. Zudem deuten manche sukzessive langsamer werdende Tempo-Angaben der immer wieder revidierten ersten vier Symphonien wie auch manche Eigenarten der Tempobezeichnungen darauf hin, dass der musikalische Grundpuls etwa ab der Siebenten ruhiger wurde.

Zur Bestimmung des Tempos wäre nach den Erkenntnissen von Grandjean zu unterstreichen, dass sich Bruckners Angaben auch auf das der Harmonik zugrundeliegende Metrum beziehen, nicht aber nur zwingend auf die vorbezeichnete Takt-Art. Dies hat bemerkenswerte Konsequenzen, zum Beispiel für die Darstellung der Innensätze: Im Adagio der Fünften und Siebenten etwa bezieht sich das langsame Tempo auf die Halben der harmonischen Fortschreitung, nicht etwa auf Viertel oder gar Achtel. In den Scherzi hingegen bezieht sich das Tempo in der Regel auf die Viertel; ungeachtet mancher blockhafter Passagen ohne Harmoniewechsel gibt es nämlich verwickelte Fortschreitungen in Vierteln. Unvermittelte Brüche, also Tempowechsel, die nicht einer Relation unterliegen, gibt es bei Bruckner nur selten; die Relationen sind in der Regel entweder gerade oder (seltener) ungerade. Besonders empfindlich sind hierbei die Nahtstellen zwischen formalen Komplexen; dort ist ein Erkennen und Einhalten der Temporelation unabdingbar, wenn nicht der Sinn für das Ganze verloren gehen soll. Aber auch zwischen den Sätzen gelten strenge Temporelationen, die Einheit in der Vielfalt garantieren sollen. Schließlich kommt noch hinzu, dass die strenge Metrik nach einer gewissen Konstanz des Tempos verlangt, namentlich an den Nahtstellen von formalen Abschnitten und innerhalb von Blöcken oder Klangflächen.

Bruckners Musik bietet also, auch wenn sich dadurch mancher Effekt erzielen lässt, nur wenig Raum für größere agogische Freiheiten. Agogik (also die nicht ausnotierten Tempo-Modifikationen) lässt sie immer dort zu, wo der Formverlauf gesichert erscheint – zum Beispiel in Durchführungen oder Übergängen. Auch für die Tempo-Bezeichnungen gilt, dass Bruckner erst nach und nach einen verfeinerten Gebrauch entwickelte. Mitunter sind sie bei ihm keineswegs eindeutig; insbesondere im Zuge von Umarbeitungen ergaben sich manche Widersprüche, die sowohl Herausgeber wie auch Interpreten vor kaum lösbare Probleme stellen. In den Frühfassungen ist generell mehr Agogik möglich, weil Bruckners Architekturprinzipien noch nicht so weit ausgereift waren; er notierte hier nur vergleichsweise selten Ritardandi und „a tempo“. Manchmal wies er mit der Bezeichnung „rubato“ ausdrücklich auf mögliche Abweichungen vom Grundzeitmaß hin. (Nach der Fünften kommt diese Bezeichnung nicht mehr vor.) Später ging Bruckner sukzessive immer gründlicher in der Tempo-Bezeichnung vor – manchmal sogar vielleicht etwas zu gründlich, wie im Falle der Siebenten, denn Franz Schalk wies in seinen Briefen und Betrachtungen (1935) auf Folgendes hin: „[…] vorgeschriebenen Tempomodifikationen, die Bruckner zumeist auf Anregung seiner Schüler und nicht immer ohne Abneigung einzeichnete, darf kein zu großes Gewicht beigelegt werden. […] Die Tempomodifikationsangaben sind meist beim vierhändigen Vorspielen entstanden und im Orchestervortrag stellenweise ganz entbehrlich.“ (S. 85). Doch in der Regel hat Bruckner seine eigenschriftlichen Modifikationen sehr überlegt disponiert. Seine Praxis in der Achten und Neunten deutet darauf hin, dass er schließlich sogar bewusst zwischen Ritardando (vor „a tempo“) und Ritenuto (bei folgendem Tempowechsel) unterschieden hat, und mit der in diesen Werken oft zu findenden Schreibweise „rit“ ohne Punkt nach dem t ließ er sich für mögliche spätere Änderungen sogar noch ein Hintertürchen offen.

Wie empfindlich gerade die Nahtstellen von Formabschnitten sind, lässt sich am 1. Satz der Fünften zeigen. Es ist dort eine weit verbreitete Unsitte, die Gesangsperiode erheblich langsamer zu nehmen, obwohl in der Partitur keinerlei Tempowechsel vermerkt ist. Es gibt in der Tat einige Autoren, die behaupten, es sei damals eine ungeschriebene Regel gewesen, Seitenthemen generell langsamer zu nehmen. Betrachtet man jedoch Bruckners Tempi insgesamt, scheint ihm selbst sehr klar gewesen sein, wann er ein solches langsameres Tempo vorschreiben wollte und wann nicht. Die Musik schwingt hier jedoch weiter in Halben; metrische Widerstände hat Bruckner lediglich durch mehrere Ritardandi illustriert. Fatale Folgen hat dieses Verlangsamen spätestens beim Eintritt der Schlussperiode, denn wie so oft bereitet eine Überleitungsperiode den Rhythmus des nachfolgenden 3. Themas vor. Hier ist es die synkopierte Begleitung der Violinen ab T. 153, die aus der Seufzerfigur in T. 111 der Gesangsperiode hergeleitet ist und in der Schlussperiode ab T. 161 zum prägenden Rhythmus wird. Wenn solche Zusammenhänge hörbar gemacht werden sollen, muss das Grund-Zeitmaß konstant gehalten werden, damit der Hörer den roten Faden nicht verliert. Wer aber die Gesangsperiode langsamer beginnt, wird sich genötigt sehen, bis zu T. 153 hin unmerklich wieder zu beschleunigen, andernfalls entweder bei T. 161 das Allegro unvermittelt wieder aufzunehmen oder aber das gleiche langsamere Zeitmaß beizubehalten. In letzterem Fall verliert der Satz überhaupt weitgehend seinen Allegro-Charakter. Diese Zusammenhänge hat bereits Hans Swarowsky in seinem Buch Wahrung der Gestalt aufgezeigt.

Ein besonderes Problem taucht in der Vierten Symphonie (Fassung 1874) auf. Das Hauptthema im 2. Satz ist mit „Andante, quasi allegretto“ bezeichnet, das 2. Thema jedoch mit „Adagio“ und zusätzlich noch in kleinen Notenwerten notiert; das Metrum wechselt also von Vierteln zu Achteln bzw. von Halben zu Vierteln. Viele Dirigenten wählen für diesen Abschnitt dessen ungeachtet ein neues Tempo. Bruckner selbst klärte den Sachverhalt auf: Er notierte später nicht nur in der Neufassung von 1878 das 2. Thema in augmentierten Notenwerten und tilgte die Bezeichnung „Adagio“, um Missverständnisse zu vermeiden. In seinem Schreiben an Wilhelm Tappert vom 6.12.1876 anlässlich einer geplanten, später gescheiterten Aufführung der Vierten in Berlin teilte Bruckner außerdem auf einem Notenblatt einige Korrekturwünsche mit. Dabei steht vorsichtshalber zweimal ausdrücklich: „Adagio NB die Achtel wie früher die Viertel.“ (Faks. in: Briefe I, 761206) Dies beweist, dass Bruckner Tempo-Relationen voraussetzte.

Besonders komplexe Tempo-Probleme bietet der Kopfsatz der Sechsten. Die Zusammenhänge werden dem Interpreten eigentlich erst klar, wenn er die raffinierte Architektur und die komplexen metrischen Vorgänge analysiert und verstanden hat. (Bei Grandjean, S. 203ff., findet sich eine solche Analyse.) Das Anfangstempo ist nämlich nicht das Hauptzeitmaß des Satzes, sondern nur ein Rahmentempo, reserviert für die Exposition und Reprise des Hauptthemas sowie die letzten Takte der Coda. Im Tempo für die Gesangsperiode, „Bedeutend langsamer“, entsprechen die Triolen-Viertel den vorausgehenden geraden Vierteln; das Tempo wird also um ein Drittel langsamer. Beim Eintritt der Schlussperiode ändert sich nur das Metrum, nicht aber Tempo und Takt, wie die vorausgehenden Bässe in geraden Vierteln unter dem Vierteltriolenpuls zeigen; hier gilt also Halbe = Halbe. Auch die Durchführung mit ihrem Wechsel aus Perioden in Vierteltriolen und regulären Halben zeigt, dass dieses zweite Tempo das eigentliche Grundtempo des Satzes ist. Das Anfangstempo muss also relativ rasch genommen werden. Erhärtet wird diese Annahme durch Befunde in den Quellen: Ursprünglich wollte Bruckner, wie noch im Autograf in Spuren zu sehen ist, den Satz mit „[…] Allegretto“ bezeichnen. Das spätere „Majestoso“ deckt sich im Ausdruck ungeachtet des anders gestalteten Grundrhythmus auffallend mit dem „feierlich, nicht schnell[en]“ Beginn des Finales der Achten, von Bruckner mit MM Halbe = 69 bezeichnet. Im Autograf des 1. Satzes hat Cyrill Hynais nun – sicher nicht ohne Einverständnis Bruckners – eine Metronomangabe für das Anfangstempo ergänzt, und zwar Halbe = 72, was nahe bei Bruckners eigenem Tempo für das Finale der Achten liegt und den Charakter des Satzes gut trägt. Die zweite Angabe von Hynais steht bei T. 49 und gibt Halbe = 50. Dies entspricht nun fast genau der von Grandjean vorgeschlagenen Proportion (streng genommen wären Halbe = 48 anzusetzen). Bemerkenswerterweise wurden diese Metronomvorschläge später aber nicht in den Erstdruck mit aufgenommen. Üblicherweise wird der Kopfsatz der Sechsten jedoch gut ein Drittel langsamer genommen und die Proportion der beiden Tempi zueinander wird oft völlig missachtet.

Wie wichtig die Tempo-Relationen auch zur Verbindung aller Sätze sind, zeigt sich in den Symphonien seit der Fünften, in denen aufgrund der Dominanz des von Werner F. Korte (S. 39) erstmals erkannten Mutationsverfahrens vor allem mikrorhythmische Motiv-Zusammenhänge das gesamte Werk durchziehen. Zu beachten ist dabei auch, dass Bruckner thematische Prozesse insbesondere durch signifikante rhythmische Topoi verdeutlicht, die ihr Tempo in der Regel behalten: Wenn etwa im Finale der Achten in der Schlussgruppe der Exposition der Rhythmus vom Hauptthema des Kopfsatzes wieder auftaucht, ist es eigentlich logisch, dass das Tempo identisch sein soll. Noch wichtiger sind solche Relationen dort, wo die Themen verschiedener Sätze ausdrücklich überlagert werden – etwa im Finale der Fünften. Die Tempi der Ecksätze dürften bei Bruckner in der Regel identisch zu wählen sein, da die Finalsätze oft die Themensubstanz der Kopfsätze wieder aufgreifen, weiter durchführen und so zu einem Gegen-Statement des jeweiligen Kopfsatzes werden. Schön zeigt sich dies im Finale der Siebenten, dessen Anfangsthema eine schlichte rhythmische Variation des Themas vom 1. Satz ist, welches überdies noch am Ende der 1. Themengruppe des Finales in der Klarinette herausstechend hörbar zitiert wird. Auch die handschriftlich mühsamen doppelten Punktierungen in diesem Satz deuten auf ein generell nicht schnelles Tempo hin – von der Tempo-Angabe selbst ganz zu schweigen („Bewegt, doch nicht schnell“). Die bisher übliche Aufführungspraxis hat in solchen Fällen leider nur selten überzeugende Lösungen anzubieten.

Literatur

BENJAMIN-GUNNAR COHRS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 22.5.2018

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