Kompositionsprojekte

Hinweise auf ursprünglich geplante und dann doch nicht ausgeführte Kompositionen sind bei Bruckner äußerst selten, da weder er in seinen Briefen künstlerische Pläne äußerte noch Freunde und Schüler sich an derartige Vorhaben des Meisters erinnerten. In einigen wenigen Fällen gibt es jedoch konkrete Anhaltspunkte.

Aus Bruckners zweiter St. Florianer Zeit (etwa aus den Jahren 1845–1848) stammt das Fragment zu einem Kyrie einer groß angelegten Messe in Es‑Dur, von dem nur 58 Takte erhalten sind. Ob es sich dabei um ein wieder fallen gelassenes Kompositionsprojekt oder aber um eine einst vollständige, heute nur fragmentarisch überlieferte Arbeitspartitur handelt, ist nicht geklärt.

Max Auer berichtet von Bruckners Absicht, eine Oper nach Joseph Victor von Scheffels (1826–1886) erstmals 1855 gedruckten Epos Ekkehard. Eine Geschichte aus dem 10. Jahrhundert zu komponieren. Wann Bruckner sich mit dem Gedanken dieser Oper trug und warum der Plan nicht realisiert wurde, ist nicht überliefert. Während eines Ausfluges nach Klosterneuburg wurden am 4.6.1885 von Friedrich Eckstein zwei Opernlibretti für Bruckner in Erwägung gezogen: Libussa (Libuše, die mythische Stammmutter der Přemysliden-Dynastie in Böhmen) von Christian von Ehrenfels und Ingo (zur Zeit der Germanen angesiedelt) von Gustav Freytag (1816–1895). Schon 1880 interessierte sich Bruckner für das Libretto Ilse von Franz Schaumann, das dieser Josef Sucher (1843–1908) in Leipzig gegeben hatte. 1885 oder 1886 soll Schaumann Bruckner in Bayreuth ein Libretto mit dem Titel Die Bürgerreuth gegeben haben. 1889 habe Bruckner das Textbuch wieder zurückgegeben, da Wilhelm Kienzl (1857–1941) daran Interesse zeigte, es jedoch nicht vertonte. Auch im Wiener Akademischen Wagner-Verein wurden Pläne um eine Bruckner‘sche Oper mit „motivierter Melodie“ (Linzer Tages-Post 8.10.1921, S. 7) diskutiert.

Vermutlich 1887 war Bruckner von einer jungen (deutschsprachigen) Russin, Klotilde Welker, aufgesucht worden, die am Petersburger Konservatorium studiert hatte, komponierte und nun anlässlich ihres Aufenthaltes in Wien das Urteil einer anerkannten Autorität einholen wollte. Ihre Freundin, eine junge Autorin mehrerer Dichtungen unter verschiedenen Pseudonymen (Gertrud Bollé-Hellmund), wurde Zeugin, wie liebenswürdig-höflich Bruckner zwar die vorgelegten Arbeiten durchsah, dass er sie aber offenbar nicht „für voll“ nahm und sich „sein wahres Gutachten hinter einer Blütenlese von schön klingenden Redensarten verbarg“ (Göll.-A. 4/3, S. 346). In der Folge riss dann der Kontakt zwischen Bruckner und Fräulein Bollé nicht mehr ab. Bei ihren Gesprächen ging es fast ausschließlich um Kunst, auch um die Frage, ob eine Frau in der Lage sei, ein Opernlibretto zu schreiben, wozu Bruckner sie jedoch „nicht veranlagt“ sah (Göll.-A. 4/3, S. 342–350). In der Annahme, Bruckner habe seine Neunte Symphonie längst vollendet, bot ihm Fräulein Bollé 1893, sich hinter dem „neutralen“ Namen „G. Bollé-Hellmund, Schriftsteller“ versteckend und sich nicht auf die vergangene intensive Bekanntschaft beziehend, brieflich das ihrer Meinung nach passende Opernlibretto Astra nach der Novelle Die Toteninsel von Richard Voß (1851–1918) an: „religiösen Inhalts, eigenartig, erhaben, entbehrt auch nicht der notwendigen lyrischen Motive – verlangt aber, wie ein Kunstkenner sagte, ,einen ganzen Kerl‘ – ,einen Genius von Gottes Gnaden‘, denn Kapellmeistermusik wäre dabei nicht angebracht“ (Briefe II, 930900). Bruckner antwortete – völlig ahnungslos über die Person dieses „Librettisten“ – aus Steyr am 5.9.1893, dass er „auf Befehl der Ärzte“ zwar jetzt ausruhen müsse, aber nach Fertigstellung der Symphonie, wofür er zwei Jahre veranschlage, und bei „nöthige[r] Kraft [...] herzlich gerne an ein dramatisches Werk“ ginge, möglichst „eins a la Lohengrin, rom[antisch] religiös – misteriös u[nd] besonders frei von allem Unreinen“ (Briefe II, 930905). Nach dem 5.5.1895 teilte Anton Meißner in einem Brief Bollé-Hellmund mit, dass Bruckner noch nicht gesund sei und erst das Finale der Neunten Symphonie fertig stellen müsste (Briefe II, 950505/2). Die Vorlage von Voß ist ein historischer Roman aus der Zeit der Christenverfolgung im alten Rom, der durch das Bild von Arnold Böcklin (1827–1901) inspiriert worden war. Die Vorlage dürfte Bruckner nicht begeistert haben, denn Meißner teilte Bollé-Hellmund mit, dass vermutlich „ein ausgesprochen katholisches Libretto […] besser zusagen würde […], z. B. wie Liszts Legende der heiligen Elisabeth“ (Briefe II, 950706/1).

Über eine zehnte Symphonie berichtete 1892 die Stuttgarter Neue Musik-Zeitung (13 [1892] H. 16, S. 187): „Unser Anton Bruckner, der altehrwürdige Symphoniker, trägt sich mit der Absicht, seinen neun Symphonien eine zehnte hinzuzufügen, und zwar die ,gotische‘. Um in die richtige Stimmung zu kommen, geht er seit Tagen stundenlang in und um die Stephanskirche und studiert deren edle Bauformen.“ (vgl. Zahlensymbolik). Bis 1892 komponierte Bruckner tatsächlich bereits neun Symphonien: nach heutiger Zählung die Erste bis Achte, sowie die Symphonie in d‑Moll („Annullierte“), welche er erst 1895 annullierte (die Symphonie in f‑Moll [„Studiensymphonie“] war für Bruckner nur ein Übungsstück am Ende seiner Ausbildungszeit bei Otto Kitzler). Somit handelte es sich damals bei der erwähnten „gotischen“ um Bruckners zehnte Symphonie – nach heutiger Zählung die Neunte. Es bleibt fraglich, ob der Symphoniker Bruckner seine Kraft einer Oper oder nicht doch lieber einer weiteren Symphonie gewidmet hätte.

Ein (vermutlich im Herbst 1885) an Bruckner herangetragenes Projekt, mit dem er sich gar nicht anfreunden konnte, war die von Richard Wagners Freund Hans Paul von Wolzogen angeregte Vertonung des Sonnengesanges von Franz von Assisi (ca. 1181/82–1226), wie wir aus den Erinnerungen Friedrich Ecksteins wissen: „Als ich eines Tages in der Heßgasse erschien, übergab mir der Meister ein ausführliches Schreiben von Hans Paul von Wolzogen in Bayreuth, in welchem dieser bekannte Freund und Ratgeber Richard Wagners bei Bruckner anfragte, ob er nicht geneigt wäre, den ‚Sonnenhymnus‘ des heiligen Franciscus von Assisi als Oratorium zu komponieren. Dem Brief war die italienische Dichtung beigeschlossen. Da Bruckner des Italienischen nicht mächtig war, las ich ihm die ersten Zeilen vor, um ihm einen Eindruck von den klanglichen Wirkungen dieser Verse zu verschaffen. […] Da Bruckner jedoch auch eine möglichst gute Übertragung dieser Verse zu sehen wünschte, brachte ich ihm die damals sehr bewunderte von Johann Heinrich Schlosser […]. Bruckner war erstaunt, als ich ihm mitteilte, daß der Sonnenhymnus schon von Franz Liszt, und zwar für Baritonsolo, Männerchor, Orgel und Orchester komponiert worden sei, und er bat mich, ihm die Partitur zu leihen. Als ich aber nach einigen Tagen wieder bei ihm vorsprach, erklärte er mir mit voller Entschiedenheit, es sei ihm gänzlich unmöglich, sich in den Hymnus hineinzufinden; dieser sage ihm nichts und darum könne er ihn auch nicht in Musik setzen. Daß Franz Liszt zu dieser Dichtung einen Zugang gefunden habe, könne er sehr gut verstehen; aber seine eigene Art, Musik zu machen, sei eben von der Liszts gänzlich verschieden. Ich habe mich später des öfteren gefragt, ob die Ablehnung Bruckners, den ‚Cantico de lo Frate Sole‘ zu komponieren, nicht auch damit zusammenhing, daß Bruckner seine Jugend in Oberösterreich unter dem Einflusse der Augustiner-Chorherren zugebracht hatte und daß er vielleicht gerade darum der ganzen Richtung der Franziskaner ziemlich fremd gegenüberstand, während hingegen eine Individualität wie die Liszts von ihr gänzlich in Bann geschlagen worden ist.“ (Eckstein, S. 140ff.).

Kaum ein Projekt, sondern wohl eher die rührend-hilflose Liebenswürdigkeit des immer verwirrter werdenden, schwerkranken Bruckner war schließlich der Wunsch, für seinen Arzt Richard Heller einen Choral (WAB 226) zu komponieren (Göll.-A. 4/3, S. 571; Scheder, S. 142). Bruckner scheint auch tatsächlich mit der Arbeit begonnen zu haben, ob er sie je vollendet hat, darf aber bezweifelt werden (Verschollenes, Incerta und Falsa).

Literatur

ANDREA HARRANDT, ELISABETH MAIER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 9.9.2020

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