Arbeitsweise und Schaffensprozess

In den folgenden, in drei Abschnitte unterteilten Untersuchungen werden Spezifika der Bruckner‘schen Arbeitsweise in seiner frühen, mittleren und späten Schaffenszeit näher beleuchtet, wobei Überschneidungen, Wiederholungen usw. nicht immer vermeidbar waren.

Die frühen Jahre

Bruckners eigener Ansicht nach – auch schon vor den Studien bei Simon Sechter – war die Quintessenz seiner Arbeitsweise, dass die Melodie der Urquell der vollständigen Komposition sei. Den aus seinen Jahren in St. Florian und Linz stammenden frühen Entwürfen und Kompositionen liegen meistens auf einem zwei- oder dreistimmigen Melodie-Bass-Gerüst aufbauende Perioden oder bei umfangreicheren Stücken auch längere Abschnitte zugrunde. Kleinere Kompositionen wurden von Bruckner fast immer in vier Stufen (Lagen) direkt in der Partitur vervollständigt: 1. die äußeren Stimmen, 2. die inneren Stimmen, 3. Änderungen an den äußeren Stimmen und 4. schließlich das Einsetzen von Aufführungsanweisungen. Eine ähnliche, aber erweiterte Arbeitsweise in Lagen wandte Bruckner auch in seinen größeren Kompositionen für Singstimmen mit Ensembles an: In einer Partitur notierte er zunächst das Melodie-Bass-Gerüst in den dafür vorgesehenen Stimmen, normalerweise Sopran und Bass (vgl. z. B. die unvollendete Missa pro Quadragesima in g-Moll). Dann ergänzte er zunächst die übrigen Vokalstimmen und schließlich die Instrumentalstimmen – zuerst die Streicher, danach die Holz- und zuletzt die Blechbläser. Die meisten Aufführungsanweisungen wurden erst nach der Orchestrierung hinzugefügt.

Auffallend an der erwähnten Partitur zur Missa pro Quadragesima in g-Moll ist die als früheste Kompositionsanlage erkennbare basso continuo-Linie. Die letzte Bruckner‘sche Chorpartitur mit solch einer „altmodischen“ Stimme ist das Ave Maria (WAB 5) von 1856 (wenn die Orgel auch in seinen Messen und seinem Te Deum später in Wien verwendet wurde). Während seiner Studienzeit 1861–1863 bei Otto Kitzler wurde Bruckner mit vielen zeitgenössischen Kompositions-, Orchestrierungs- und Aufführungsweisen vertraut gemacht. Unter anderem fing er damals an, die im 19. Jahrhundert übliche Partituranordnung zu verwenden (von oben nach unten: Holzbläser, Blechbläser, Schlagwerk, Streichinstrumente). Ein Ergebnis von Bruckners Arbeitsweise waren – vor den Umarbeitungen der 1870er bis 1890er Jahre – relativ saubere, lesbare Partituren. Wenn eine Reinschrift eines kleineren Stückes gebraucht wurde, fertigte er selbst eine solche an, für größere Kompositionen beschäftigte er dafür Kopisten. Vor der Übersiedlung nach Linz fertigte Bruckner für Aufführungen gelegentlich selbst Stimmabschriften seiner Werke an; nach 1856 tat er dies fast nie mehr.

Die mittleren Jahre

In seiner mittleren Schaffenszeit – in den Jahren zwischen der Entstehung der Messe in d-Moll und der Siebenten Symphonie – stand manchmal ein zwei- oder auch dreistimmiger umfangreicherer Entwurf am Beginn von Bruckners Kompositionsprozess; oft skizzierte er auch kontrapunktische Ideen (vgl. z. B. die Kyrie-, Gloria- und Credo-Skizzen zur Messe in f-Moll). Wenn ihm eine Skizze nicht gefiel, überarbeitete er sie nur selten. Stattdessen verwarf er sie und fing von neuem an. Es ist davon auszugehen, dass ein gewisser, wenn nicht sogar der größere Teil von Bruckners Skizzen nicht erhalten geblieben ist. Bei Werken für Chor und Orchester erarbeitete Bruckner wie schon zu seiner St. Florianer Zeit im Regelfall zuerst die Singstimmen, ausgehend von einem Melodie-Bass-Gerüst für ausgedehnte Passagen des Stücks, zu dem er die übrigen Singstimmen ergänzte, und nahm erst dann den Großteil der Orchestrierung vor. Diese Schritte sind oft sorgfältig datiert, wie z. B. im Autograf der Messe in f-Moll (ÖNB-MS, Mus.Hs.2106) – hier steht u. a. am Ende des Gloria „Erste Scizze 6. Nov. 867 Singst: 19. März 868. 11. Aug 868. fertig in St. Florian. Anton Brucknermp.“ (fol. 43v). Auch bei Orchesterwerken begann Bruckner mit einem Melodie-Bass-Entwurf, meistens in der 1. Violine und im Cello bzw. Kontrabass. Die Orchestrierung geschah in zwei oder mehr Schritten, die sich häufig überschnitten. Normalerweise schrieb Bruckner zuerst die Streicher-, dann die Bläserstimmen. Nur in fragmentarischen Passagen und in Durchführungen arbeitete er Sing- und Streicherstimmen gleichzeitig aus. Die Blechbläser- und Schlagwerkstimmen fügte er oft erst in der letzten Phase der Orchestrierung hinzu. Für die Anfertigung der Reinschrift einer Partitur oder von Aufführungsstimmen beschäftigte Bruckner Kopisten.

Entsprechend dem Umgang mit seinen Skizzen nahm Bruckner bei der Erarbeitung einer Partitur nur wenige Korrekturen in den notierten Partiturbögen vor, sondern verwarf, wenn ihm eine Passage nicht gefiel, das ganze Bifolio. Manchmal waren auch umfangreichere Satzteile von diesem Vorgehen betroffen. Zusammen mit der autografen Partitur der Ersten Symphonie sind z. B. die Bifolios 3–8 einer früheren Lesart des Adagios (langsamer Satz) erhalten. Sie wurden aus der Partitur herausgenommen und durch neue Bögen, welche die aktuelle Lesart des Satzes enthielten, ersetzt. Diese Korrektur dauerte nur zwei Tage, denn die frühere Lesart wurde am 12.4.1866, die zweite am 14.4.1866 datiert. Solche Änderungen während des Kompositionsprozesses waren normal für Bruckner.

Die berühmtesten und meistdiskutierten Aspekte der Arbeitsweise Bruckners treten in seinen frühen und mittleren Partituren kaum zutage. Dies ist besonders darauf zurückzuführen, dass Revisionen früherer Kompositionen bei Bruckner vor Mitte der 1870er Jahre fast keine Rolle spielten. Ebenso lassen sich vor den Wiener Jahren keine unautorisierten Abänderungen in den Partituren nachweisen. Auch Bruckners Gewohnheit, Noten zuerst mit Bleistift zu schreiben und dann mit Tinte nachzuzeichnen, die allgegenwärtigen überflüssigen Versetzungszeichen sowie die Stimmführungsnotizen am Rand finden sich selten in seinen Autografen vor den späten 1880er Jahren. Abgesehen von den Studien bei Kitzler (Kitzler-Studienbuch) sind die bei Bruckner wohlbekannten metrischen Zahlen vor den 1870er Jahren ebenfalls selten zu finden. Er hat nur in Partituren aus seinen Linzer Jahren gelegentlich Perioden nummeriert und öfter Takte innerhalb eines ganzen Satzes gezählt und die Gesamtsumme am Ende vermerkt (z. B. bei Kyrie und Agnus Dei der Messe in f-Moll).

Die späten Jahre

Im Gegensatz zu den wenigen überlieferten Vorarbeiten früherer Werke ist zu den Kompositionen ab der Achten Symphonie eine große Anzahl von Skizzen und ausgesonderten Partiturbögen erhalten. Zur Zeit seines Umzugs ins Kustodenstöckl des Belvedere-Schlosses am 4.7.1895 vernichtete Bruckner zwar die meisten seiner früheren Vorarbeiten, die noch in seiner alten Wohnung in der Heßgasse lagen. Zudem gingen kurz nach seinem Tod viele Manuskripte aus seinem Nachlass verloren, da sie als Andenken verschenkt wurden, nicht zuletzt auch durch mangelnde Umsicht seines Testamentsvollstreckers Theodor Reisch. Dennoch umfassen die überlieferten Quellen allein zur Neunten Symphonie mehr als 1.000 Seiten, die zur Achten, die ja in zwei Fassungen und mehrfachen Abschriften von fremder Hand vorliegt, sogar noch viel mehr. Darüber hinaus besitzen wir zu den Chorwerken Helgoland und Das Deutsche Lied einen wohl beinahe kompletten Skizzenbestand – reichliches Material, das ein umfassendes und konsistentes Bild der Kompositionstechnik des späten Bruckner ermöglicht.

Bis hin zu den letzten Werken blieb Bruckner einer seiner Kompositionspraxis offensichtlich völlig angemessenen Arbeitsweise verpflichtet, die nachweislich aus lediglich zwei Phasen bestand: In der ersten Phase skizzierte er in Form eines Particells ein wenn auch noch in den ersten Anfängen steckendes, doch bereits erkennbares Ganzes. Ein „Vorskizzieren“, wie es etwa die Skizzenhefte Ludwig van Beethovens dokumentieren, gibt es bei Bruckner nicht, wenn auch freilich, besonders in den frühen Phasen, Material vorkommt, das Bruckner im Laufe der Arbeit wieder verwarf bzw. weitgehend veränderte. Auch arbeitete er die Sätze bzw. Satzteile der Reihe nach ab. Danach folgte die Niederschrift der Streicher in der Partitur und letztlich die mühsame vollständige Ausarbeitung der Instrumentation. Für seine Skizzen benutzte Bruckner in der Regel ein Particell aus vier bis fünf Systemen, in denen der Satz in seinen wesentlichen Zügen, d. h. hauptsächlich die Exposition sowie mindestens der grundsätzliche Fortgang der Durchführung und Reprise, umrissen wurde. Diese zwei Phasen, Skizze und Partitur-Niederschrift, konnten auch zeitlich überlappen; so griff Bruckner z. B. gelegentlich auf Skizzen zurück, wenn ihm der weitere Ablauf des Satzes unklar erschien. Die vielfach nur mit Bleistift notierten Skizzen bestehen zwar meistens aus kaum mehr als je einer führenden Stimme mit Bass (manchmal mit Generalbassziffern versehen); gelegentlich arbeitete Bruckner aber auch den kompletten musikalischen Satz bereits in der Skizze aus. Eine besondere Problematik bilden die häufig schwer lesbare Handschrift des Komponisten und seine Angewohnheit, manche Einfälle so übereinander zu schreiben, dass sie heute kaum mehr zu entziffern, geschweige denn chronologischen Schichten zuzuordnen sind. Viele derartige Skizzen tragen sorgfältige Datierungen. Die wohl vollständig überlieferten Skizzen der späten Chorwerke, Helgoland und Das Deutsche Lied, sehen so aus, als ob sie praktisch in einem Zug entworfen worden wären.

Die Niederschrift der Partitur erfolgte auf sorgfältig vorbereiteten, nacheinander gelegten und durchgehend nummerierten Bögen. Nach der Fixierung der Streicher (in Tinte, oft sogar datiert) und wesentlicher Bläsereinsätze (meist in Bleistift) wurden schließlich die Bläserstimmen systematisch ausgearbeitet. Auch deren Werdegang wurde oft mit Daten dokumentiert. Mit der Vollendung aller satztechnischen Elemente galt die Partitur für Bruckner bereits als „fertig“. Dynamik und Artikulation, manchmal auch Tempobezeichnungen, kamen meistens als letzter Schliff hinzu. Am 5.11.1894 etwa berichtete Bruckner seiner Universitätsklasse: „Drei Sätze meiner IX. Symphonie sind schon fertig, die zwei ersten schon vollständig, nur im dritten Satz muß ich noch etwas nuancieren.“ (zit. n. Schwanzara, S. 97).

Da Bruckner nie selbst eine Reinschrift seiner späteren Werke verfasste, sind seine Autografe stets „Arbeitspartituren“, und daher von überragender Bedeutung für das Verständnis seines Kompositionsvorganges. Erst durch vielfältiges Radieren, Überkleben sowie das Aussondern und Ersetzen einzelner Papierbögen und ‑halbbögen kam Bruckner zu einer völlig angemessenen Realisierung seiner Konzeption. Weder Skizzen noch Autografe tragen zum Klischee des einfältigen Genies bei; noch weniger lassen sie programmatische Intentionen im strengen, rational durchdachten Schaffensprozess durchblicken, was freilich nicht besagt, dass Bruckners Musik, vor allem durch die Anführung von Zitaten bzw. Allusionen auf textierte Werke, keine semantische Dimension beinhaltet – als treffendes Beispiel dafür wäre die Anführung des Te Deum-Streichermotives im Finale der Neunten zu erwähnen.

Die ersichtliche Sorgfalt und Akribie, mit welcher Bruckner seine Werke schuf, wurzelten zweifellos in seinem langen Theoriestudium bei Sechter und der eigenen Tätigkeit als Lehrer für Musiktheorie, wobei zu betonen ist, dass Bruckner die bestehende Fundamentalbasslehre Sechters sowie auch dessen Theorie über die Beziehungen zwischen Harmonik und Metrik nicht nur übernommen, sondern erweiterte und sich zu eigen machte. So sprach Bruckner bei seiner Antrittsrede an der Universität Wien im April 1876 von einer „musikalische[n] Wissenschaft“ bzw. „musikalische[n] Architektur“, deren „Gesetze[ ] und Regeln“ die Basis künstlerischen Schaffens zu bilden haben (zit. n. Schwanzara, S. 53). Diese betrachtete er für die Analyse der Musik Richard Wagners wie auch für seine eigene Kompositionstechnik als vollkommen angemessen (vgl. Phillips 2002, Phillips 2004, Stocken); von einem grundlegenden Widerspruch zwischen Theorie und Praxis kann nicht die Rede sein. Im Entstehen begriffene Werke erörterte Bruckner in seinem Harmonielehre- und Kontrapunktunterricht theoretisch; den Kompositionsvorgang sowie die analysierbare Faktur seiner Musik bestätigen viele Aussagen des Komponisten und seiner Schüler. Laut Angaben etwa Max von Oberleithners soll Bruckner in seinen Kompositionen Sechter‘sche Fundamentstöne verwendet haben (davon gibt es freilich spärliche Beweise), während Anton Meißner berichtete: „Wie ein Hoher Priester verwaltete er die Sechtersche Theorie vom Fundamentalbaß. Noch bei seiner ‚Neunten‘ äußerte er sich mir gegenüber hinsichtlich einer besonders kühnen Harmoniewendung: ‚Du, dös kann i a vorm Sechter verantworten!’“ (Keldorfer, S. 80f.).

Wie bereits Ernst Kurth (1920) feststellte, ist das Zugrundeliegen des Prinzips der Dominantverwandtschaft auch bei komplexen chromatischen Fortschreitungen, Alterationen usw., deutlich auszumachen. So enthüllt eine Analyse des Anfangs des Adagios der Neunten (Abbildung 1) nach Sechter‘schen Prinzipien auch Bruckners komplexeste Chromatik als eine Serie von Quart- bzw. Quintfällen. Bei zwei Fortschreitungen (T. 2–3) waren Interpolationen von „Zwischenfundament[en]“ (Sechter Bd. 2, S. 146) erforderlich; der Akkord in T. 2 kann enharmonisch als e/g/b/c gelesen werden, was die Rückung in T. 3 nach F-Dur erklärt. Der Akkord auf der 2. Halbe von T. 4 kann mit zwei Fundamenten (vgl. bei Sechter das Konzept des Zwitterakkords, Bd. 1, S. 186, Zwitterseptnonakkord, Bd. 1, S. 215ff.) gelesen werden: g und cis; mit dem Fundament g gelesen, weist er auf das folgende D-Dur. Anders wie bei Sechter, spiegelt Bruckners theoretische Behandlung des Septnonenakkords als „Stammaccord“ (Dürrnberger, Kap. Die Accorden-Lehre, S. 41–84) die er von Johann August Dürrnberger oder Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) übernommen hatte, wohl seine kompositorische Vorliebe für die Terzschichtung wieder, die in der Harmonik des Spätwerks eine so wichtige Rolle spielt. Jener Siebenklang etwa in T. 206 des Adagios der Neunten – keineswegs ein willkürlich zusammengefasster Akkord, sondern eine komplette Tredezim auf der Dominante von cis-Moll – wurde von Bruckner im Autograf durch den Vermerk „Fund. Cis moll“ (d. h. in der Tonart cis-Moll) theoretisch „bestätigt“. Darüber hinaus weisen Bruckners Partituren zahlreiche Überprüfungen der Stimmführung (manchmal sogar datiert) auf, Randkustoden, die bei Seitenwechseln auf den Fortgang der Stimmen hinweisen, sowie auch theoretische Rechtfertigungen komplexer Fortschreitungen, wie etwa im Autograf des Psalms 150.

Auch bei seinen Spätwerken hat Bruckner den Periodenbau ständig mittels seiner metrischen Ziffern überprüft, die das Werden der Musik von der frühesten Particellskizze bis hin zur fertigen Partitur begleiteten und zeigen, wie sehr Bruckner Sechters Kapitel Von den Gesetzen des Taktes in der Musik (Die Grundsätze der musikalischen Komposition, Bd. 2) verinnerlicht haben muss. Die bei Bruckner übliche „regelmäßige“, achttaktige Periode kann als „Großtakt“ verstanden werden, welcher das harmonische Geschehen hierarchisch anordnet und regelt; gemäß des „Gesetz[es] des metrischen Pendelschlags“ (Grandjean, S. 107) alternieren stets metrisch schwere, ungerade mit metrisch leichten, geraden Takten bzw. Taktgruppen; wichtigere harmonische Schritte fallen auf wichtigere Taktteile bzw. Takte (vgl. Grandjean). In den Spätwerken werden achttaktige Perioden für immer längere Abschnitte beibehalten; andere Längen (meist geradzahlige) kommen immer seltener vor. In der Neunten Symphonie etwa treten Zweitakter als „Vorstufen“ längerer Abschnitte auf (fast ausschließlich im 1. Satz); erst bei Steigerungen tauchen zusätzliche Viertakter bzw. Zwölftakter (8+4) auf, welche die Spannung des Höhepunkts verstärken. Allein in der Fugen-Durchführung im Finale der Neunten kommen drei Dreitakter vor, und zwar zum ersten Mal seit einer ähnlichen Stelle in der Fuge des Finales der Fünften Symphonie (beide Male Stretto des Fugen-Themas). Bruckner nummerierte gelegentlich ganze Satzabschnitte durch, z. B. Fuge und Choral-Reprise in der Arbeitspartitur des Finales der Neunten.

Letztlich beinhalten Bruckners Skizzen und Partituren genaue Hinweise auf die Form seiner Musik. Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis seiner Symphonien ist Bruckners Gliederung seiner Sonatensätze (Ecksätze, Scherzi und Trios) in einen „Ersten Teil“ (Exposition) und einen „Zweiten Teil“ (Durchführung, Reprise und Coda). Ein Doppelstrich trennt die beiden Satzteile voneinander; nirgendwo wird bei den Autografen der Beginn der Reprise als solcher gekennzeichnet. Dies erklärt die für Bruckner typische Verschachtelung von Durchführung und Hauptthemenreprise und ist auf ein ursprünglich klassisches, zweiteiliges Modell des Sonatensatzes zurückzuführen, das Bruckner durch sein Studium des Theoretikers Johann Christian Lobe (1797–1881; Lehrbuch der Musikalischen Komposition) vermittelt bekam und trotz der enormen Erweiterung seiner Symphoniesätze offensichtlich nie überdacht hat – ein weiterer Beleg seiner oft angeführten Beharrungstendenz. Die in den Autografen häufig vorkommenden Bezeichnungen „Hauptthema“, „Gesangsperiode“, „unisono“, „Schlußgruppe“ u. ä. übernahm Bruckner alle von Lobe; sie sind für die Analyse seiner Werke auch viel aussagekräftiger als die Termini „Erster“ und „Zweiter Teil“. Die Adagio-Sätze sind dreiteilig zu verstehen, wobei die Themen laut Bruckners eigenen Angaben ebenfalls mit „Hauptthema“ und „Gesangsthema“ gekennzeichnet werden können und die „3. Abteilung“ als ein Nachsatz, Abgesang oder längere Coda gesehen werden kann.

Bruckners Spätstil ist geprägt von der Entwicklung, die er durch sein symphonisches Schaffen erfahren hat. Genau wie allmählich eine auf Kadenzen hinzielende, durch Vorder- und Nachsatz geprägte Harmonik in jene von der quadratischen Periodik bestimmten „Klangwellen“ (Kurth 1925) übergeht, löst sich die eigenständige Melodik im Laufe seiner stilistischen Entwicklung zunehmend in Transformationsketten („Kettenstruktur“, Korte, S. 28–32) die einem ständigen Prozess der Mutation (Korte, S. 25) unterworfen werden. Bei diesem „Mutationsverfahren“ (Phillips 1992, S. 154), das erstmals von Korte (1963) anhand der Achten Symphonie dargestellt, später von Hansen (1987) erörtert und zuletzt von Phillips (2002) wesentlich weiter erarbeitet wurde, werden die motivischen Bestandteile durch in sich einfache, meist stufenweise angebrachte Transformationen, wie z. B. intervallische Veränderung, Umkehrung, Erweiterung, Verkürzung, Vergrößerung, Verkleinerung, rhythmische Verschiebung usw. zu längeren melodischen Abschnitten verarbeitet. Als Konsequenz konnte Bruckner sein thematisches Material immer weiter reduzieren; so kann z. B. fast alles, was in den letzten zwei Sätzen der Neunten vorkommt, von zwei oder drei anfänglichen Motiven abgeleitet werden. Phillips zeigt (2002; Abbildung 2) die im Spätwerk Bruckners vorkommenden Transformationsmittel und verdeutlicht den stufenweisen Aspekt des Prozesses anhand des Anfangs der Neunten: ein Paradebeispiel, wie durch dieses Verfahren jene Dreiklangszerlegung, mit welcher der erste Satz beginnt, in das Hauptthema verwandelt wird.

Das Mutationsverfahren sorgt nicht nur für den Fortgang der Hauptlinien der Musik, sondern greift auch tief in die kontrapunktische Faktur ein, vor allem durch die Imitation führender Stimmen durch Begleitstimmen, wobei die Motive in den Begleitstimmen oft auf ihr rhythmisches Gerüst reduziert auf einer gleichbleibenden Tonhöhe erklingen. Bemerkungen wie „Umkehrung“ oder „zugleich und 1/4 später“ im Finale der Neunten zeigen, wie Bruckner solche Mittel bewusst einsetzte. Eine weitere charakteristische Technik Bruckners ist, dass er neu eintretende Themen in den vorhergehenden Abschnitten vorbereitete, indem er dort Elemente der Themen (oft lediglich Intervalle) heranbildete bzw. anklingen ließ. Ein besonders prägnanter Fall findet sich bei T. 223f. des Adagios der Neunten, wo gegen Ende der Coda jene Tritonus-Fortschreitungen, mit denen das Finale beginnt, gewissermaßen „vorzitiert“ werden, freilich als logisch hergeleitetes Glied einer Transformationskette. In gleicher Weise verfuhr Bruckner mit Zitaten, die sich durch ihre Bekanntheit zwar vom übrigen musikalischen Geschehen abheben, stets jedoch in das Gewebe motivischer Beziehungen als Varianten vorhergehender Motive eingebunden sind. So erscheint beispielsweise das „Misere“-Motiv aus der Messe in d-Moll in der Coda des Adagios der Neunten als eine Umkehrung des Gesangsthemas. Transformationsketten können sich auch über mehrere Sätze bzw. Werke hinziehen; das von Bruckner wörtlich als „Abschied vom Leben“ gekennzeichnete Thema, das im Adagio der Neunten bei T. 29 erscheint und weitere Transformationen im Laufe des Satzes erfährt (T. 139, 140, 155), taucht im Finale als mächtiges Choralthema wieder auf (s. autografe Partitur, S. 41, 50, 52, 113, 124). Als „Katabasis“-Topos findet man die absteigende melodische Linie bereits bei früheren Werken, etwa im Agnus Dei der Messe in d-Moll (Violinen am Beginn), im Kyrie der Messe in f-Moll, im Präludium für Harmonium in C-Dur („Perger Präludium“) und im Finale der Achten Symphonie (1. Fassung, T. 171).

Literatur

PAUL HAWKSHAW, JOHN A. PHILLIPS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 10.5.2019

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Abbildungen

Abbildung 1: Analyse des Beginns des Adagios der Neunten Symphonie (Satz: J. A. Phillips)

Abbildung 2: Mutationsverfahren in der Neunten Symphonie (J. A. Phillips)

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ACDH-CH, Abteilung Musikwissenschaft