Slowakei (Rezeption)

Bruckners Musik wurde in der Slowakei durch Josef Thiard-Laforest bekannt, dem Leiter des Kirchenmusikvereins zu St. Martin in Pressburg (KMV, 1829–1958), des größten und wichtigsten Kirchenmusikvereines in Oberungarn, das seit 1918 den Großteil der Slowakei bildet. Am 27.4.1890 führte der KMV unter der Leitung von Thiard-Laforest die Siebente Symphonie im Beisein Bruckners in Pressburg auf. Zeitgenössische Kritiker bewerteten das Werk positiv und informierten über Bruckners Erfolg, der immer wieder auf die Bühne geholt wurde. Thiard-Laforest und Bruckner waren Freunde seit Thiard-Laforests beruflichem Aufenthalt in Linz (Bruckner an Thiard-Laforest: „Liebster Freund und edelster Gönner!“, Briefe II, 900507). Bruckner war Ehrenmitglied des KMV. Die Rezeption Bruckners im 19. Jahrhundert erfordert noch zukünftige Forschungen.

In der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Bruckners Werke durch Alexander Albrecht (1885–1958), Dirigent des KMV, präsentiert. Sein Verdienst bestand in der Aufführung der Siebenten Symphonie anlässlich Bruckners 100. Geburtstags (16.11.1924). Nachforschungen ergaben, dass 1931 in Pressburg unter der Leitung von Rudolf Nilius (1883–1962) die Premiere des Psalm 150 durch Chor und Orchester des KMV und des Pressburger Symphonieorchesters unter Teilnahme von Erika Rokyta (1899–1985, Sopran) und der Wiener Oratorien Vereinigung stattfand. Bruckner wurde als Vertreter des Cäcilianismus verstanden und hatte einen fixen Platz im Repertoire des KMV: Afferentur, Ave Maria (WAB 6 [?]) und Christus factus est (WAB 11 [?]) wurden seit ihrer Erstaufführung 1930 im Durchschnitt drei Mal pro Jahr im Rahmen von Sonntags- und Festmessen, Übertragungen von Messen als auch Konzerten sakraler Musik gespielt. Das Musikarchiv des KMV enthält auch die Werke Os justi, Locus iste, Te Deum und die Vierte Symphonie. Bruckners Kompositionen sind Bestandteil des Repertoires mehrerer unterschiedlicher Vereinigungen in Pressburg, z. B. des Kirchenmusikvereines zu St. Ladislaus. Innerhalb von 30 Jahren wurden Symphonien Bruckners durchschnittlich alle zwei Jahre vom Pressburger Symphonieorchester gespielt.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde Bruckners Musik (vor allem die Vierte Symphonie) dazu verwendet, deutsche Kultur zu präsentieren. Daraus resultierten eine höhere Aufführungsfrequenz der Symphonien und die damit einhergehende intensivere Auseinandersetzung in bis zu vier Tageszeitungen. Die Kritiker gaben sich gleichzeitig als Organisatoren zu erkennen: Deutsche Nationalgruppen oder die Slowakisch-Deutsche Gesellschaft. Diese Konzerte wurden von höchsten Regierungsfunktionären und Diplomaten der Slowakischen Republik besucht.

1945–1953 wurden praktisch keine Werke Bruckners gespielt, was sowohl mit der Nachkriegszeit als auch mit dem politischen Regime der Tschechoslowakischen Republik zusammenhing. 1954 feierte die Vierte Symphonie durch die Slovenská filharmónia (Slowakische Philharmonie) unter der Leitung von L‘udovít Rajter (1906–2000) als auch der Česká filharmonie (Tschechische Philharmonie) unter Franz Konwitschny ein Comeback. In den darauf folgenden 20 Jahren wurden insgesamt neun Symphonien meist durch die Slowakische Philharmonie und das Symphonieorchester des Tschechoslowakischen Rundfunks aufgeführt. In der folgenden Dekade wurden vor allem Bruckners frühe Symphonien gespielt, wozu auch die Staatsphilharmonie Košice beitrug. Die bemerkenswertesten Aufführungen stellen die der Achten Symphonie beim Musikfest Bratislava vom 26.11.1979 durch die Münchner Philharmoniker unter Sergiu Celibidache und jene der Vierten Symphonie durch die Wiener Symphoniker unter Gennadi Roschdestwenski beim Musikfest Bratislava 1983 dar. Davon gibt es eine Videoaufnahme, die das slowakische Fernsehen unter dem Regisseur Pavol Füko produzierte. Nach der politischen Wende im November 1989 begann das Goldene Zeitalter für Bruckners Musik in der Slowakei. 1990–1997 führten die Slowakische Philharmonie und die Staatsphilharmonie Košice jährlich mehrere Symphonien in Bratislava, meist unter der Leitung von Aldo Ceccato (* 1934), auf. Ein seltenes Konzert der Messe in e‑Moll erklang beim Musikfest Bratislava 1993 mit La Chapelle Royale, dem Ensemble Musique Obligue und dem Collegium Vocale Gent unter Philippe Herreweghe. Die Zweite, Siebente, Achte und Neunte Symphonie sowie das Te Deum wurden in fünf Konzerten anlässlich des 100. Todestags Bruckners aufgeführt.

An der Wende zum 21. Jahrhundert pendelte sich die Aufführungshäufigkeit bei zwei Symphonien pro Jahr ein. Zur selben Zeit intensivierte sich das Interesse von Kirchenchören an Bruckners Musik. Generell könnte man sagen, dass die Slowakische Philharmonie einer der erfolgreichsten Protagonisten von Bruckners Musik in der Slowakei ist und die Vierte Symphonie das bekannteste Werk.

Konzertkritiken des 20. und 21. Jahrhunderts werden sowohl monatlich in Hudobný Život (Musikleben) als auch in Tageszeitungen gedruckt. Bruckner wird dabei als großer österreichischer oder deutscher Symphoniker beschrieben, außerdem werden Charakteristika seines Schaffens – reiche und friedvolle Harmonik, farbenreiche, romantische Klänge, monumentale Architektur, Seele, Geist, Heiligkeit, Katholizismus – herausgestrichen. Trotz der ausreichenden Präsenz von Bruckner-Symphonien in der Aufführungspraxis der wichtigsten slowakischen Orchester über die letzten 20 Jahre fordern Kritiker immer wieder mehr Bruckner-Musik ein.

Die slowakische Musikwissenschaft des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich kaum mit der Forschung und Publikation zu Bruckner-Werken, da für sie die Aufarbeitung der slowakischen Musikgeschichte vorrangig war. Die Präsentationen seiner Werke differiert nicht von jenen anderer. Bruckner wird als einer der bekanntesten Komponisten der Musikgeschichte, großer Symphoniker, unerreichbarer Improvisator an der Orgel, und seine Kirchenmusik als „Manifestation der katholischen Musik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (vgl. Bakičová 2010, S. 7) empfunden. Die Literatur betont Bruckners Gläubigkeit (Persönlichkeit) sowohl im persönlichen Leben als auch in seinen Werken. In der Slowakei wird Bruckner als „der geistige Führer“ verstanden und das nicht nur in seinen musikalischen Werken. Zum Beispiel beendete die Kirchengemeinde der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bratislava ihr vierteljährliches Bulletin mit dem Bruckner öfters zugeschriebenen Ausspruch: „Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen.“

Zum 100. Todestag Bruckners wurden gleich drei sehr ausführliche Artikel veröffentlicht. Die Zeitschrift Hudobný Život gab eine Abhandlung der Musikwissenschaftlerin Ingeborg Šišková (* 1940) heraus. Außer der Beschreibung von Bruckners Leben und Werk beschäftigte sich die Autorin auch mit dem „Problematischen“ in Bruckners Musik. Ein tschechisches musikwissenschaftliches Essay in slowakischer Übersetzung beschreibt Bruckners Kompositionsstil. Das Festjahr wurde im Wochenblatt der römisch katholischen Kirche Katolícke noviny (Katholische Kirchenzeitung) mit einer Biografie und einer Charakterisierung aller Symphonien begangen. Über das Leben und Werk Bruckners schrieb auch eine weit verbreitete ungarische Tageszeitung in der Slowakei. Zum 185. Geburtstag Bruckners übertrug das Radio der römisch katholischen Kirche Rádio Lumen eine Auswahl seiner Werke (23.9.2009). An Bruckner-Jubiläen erinnerten auch der Slowakische Rundfunk 1 und Radio Devin. Seit 1964 gibt es alle fünf Jahre eine Bruckner-Übertragung.

Zwei Musikwissenschaftler reagierten auf ausländische Aufnahmen von Bruckners Musik: Adrián Rajter (* 1968) beschäftigte sich 2001 mit authentischen Interpretationen und Andrej Šuba 2005 mit verschiedenen Möglichkeiten der Interpretation des unvollendeten Finales der Neunten Symphonie.

Der slowakischen Musikkultur stehen nur wenige Bruckner-Aufnahmen und Herausgaben von Musikalien zur Verfügung. Aufnahmen und Musikalien, die seit 1994 herausgegeben wurden, orientieren sich an einer Auswahl des Chorrepertoires. Aufnahmen früherer Jahre wurden vom Tschechoslowakischen Rundfunk entweder als Mitschnitt öffentlicher Konzerte oder als Studioaufnahmen zum eigenen Gebrauch aufgenommen. Eine seltene Ausnahme aus dem Jahr 1968 ist daher die Aufnahme der Motette Ave Maria (WAB 6 [?]) durch den Chor Lūčnica unter Štefan Klimo (1953–1983).

Literatur

VERONIKA BAKIČOVÁ

(Übersetzung: Andrea Partsch)

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 23.9.2020

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