Aufführungspraxis

Ein besonderes Manko der Bruckner-Forschung ist es, dass Fragen der Aufführungspraxis bislang kaum diskutiert wurden. Einen Ansatz dazu lieferte 1982 das Linzer Symposion „Bruckner-Interpretation“; auch haben Autoren vereinzelt in Aufsätzen dieses Thema behandelt. Doch im Gegensatz zu anderen Komponisten liegt für Bruckner bisher keine grundlegende Studie dieses Aspektes vor. Auch eine historisch informierte Aufführungspraxis seiner Werke steckte zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels immer noch in den Kinderschuhen; nur vereinzelt gab es entsprechende Bemühungen (insbesondere von Matthew Best [* 1957], Nikolaus Harnoncourt, Philippe Herreweghe und Roger Norrington [* 1934]). Die heutige Aufführungspraxis Bruckner‘scher Symphonien ist immer noch geprägt vom Stil des frühen 20. Jahrhunderts. Eine gründliche Untersuchung von Benjamin-Gunnar Cohrs ergab, dass insbesondere die Tempo-Modifikationen der nicht mehr von Bruckner überwachten, bearbeiteten Erstdrucke von Josef Schalk, Ferdinand Löwe und anderen, aber auch die Metronom-Angaben der Bearbeiter in den Klavierauszügen (Bearbeitungen) bis heute verbreitet sind. So setzte sich J. Schalk in seinem vierhändigen Klavierauszug der Achten über Bruckners eigenhändige Metronom-Angaben hinweg und gab für das Finale anfangs ein schnelleres Tempo (Halbe = 76), für den 1. Satz Halbe = 56, an – genau so ist dies bis heute in den meisten Aufführungen auch zu hören.

Die insbesondere von Löwe und J. Schalk vorgenommenen Tempo-Veränderungen zeigen in der Summe, dass schon die Bruckner-Jünger der ersten Stunde Bruckners komplexes, von seiner musikalischen Architektur her gedachtes Tempo-System grundlegend nicht begriffen haben. Ihre Auffassung reflektiert durchgehend die weitaus freieren, größeren Schwankungen unterworfenen, subjektiven Tempi der Spätromantik. Kennzeichnend für diese Auffassung sind einige verbreitete Gewohnheiten der Bruckner-Interpretation: Die Satzanfänge der Kopfsätze werden oft besonders langsam genommen und die geheimnisvolle Erwartungshaltung, die die Klanggestalt evoziert (über Klangflächen allmählich werdende Themengruppen), wird übertrieben, anstatt das Grundtempo von Beginn an entschieden zu setzen. Dies ist für das Verständnis von Bruckners Symphonien – besonders der späteren Werke – verhängnisvoll, wo die motivisch-thematische, vom Rhythmus wesentlich geprägte Grundsubstanz gerade hier entscheidend erstmals entfaltet wird. Oft werden die 2. Themen aufgrund einer von manchen angenommenen, damaligen Spielkonvention langsamer genommen, auch wenn Bruckner sie selbst (wohl oft aber seine späteren Herausgeber und Bearbeiter) gar nicht so bezeichnet hat. Daher fallen gerade die für das Verständnis der thematischen Prozesse so entscheidenden Kopfsätze in der bis heute üblichen Aufführungspraxis ausgesprochen uneinheitlich aus. Manchmal wird der Charakter der Musik dadurch sogar geradezu grotesk verzerrt, so z. B. in den Polka-ähnlichen Gesangsperioden der Zweiten, Dritten und Sechsten Symphonie, deren Tanz-Charakter zu einem gemütlichen Schlendern aufgeweicht wird. Bei den langsamen Sätzen wird der Adagio-Charakter generell überbetont; Bruckners Hinweise auf flüssigere Darstellungen (Andante-Sätze bzw. -Abschnitte oder der warnende Hinweis im Adagio der Achten „…doch nicht schleppend“ [ÖNB‑MS, Mus.Hs.40999]) werden meist vernachlässigt. Die Auffassung der Scherzo-Sätze ist zwar generell einheitlicher, doch gibt es auch hier eine Neigung, Trio-Abschnitte da zu verlangsamen, wo Bruckner ein identisches Tempo mit dem Hauptsatz vorschrieb. Ebenso lassen die Interpretationen der Tempi der Finalsätze zu wünschen übrig; besonders die Finali der Siebenten und Achten werden in der Regel zu schnell genommen; bei Sätzen mit mehreren Tempi sind generell die Tempo-Verhältnisse der meisten Interpretationen in sich nicht stimmig.

Schon Franz Schalk hatte in seinen Briefen und Betrachtungen (1935) gewarnt: „Nichts war dem Meister widerlicher als die kleinen, allzu persönlichen Akzentwellen des Vortragenden, ob sie nun Tempo oder Ausdruck oder, wie zumeist, beides in zu kleine Teile zerrissen. Er gebot, daß das Tempo (Hauptzeitmaß) namentlich innerhalb der großen Perioden streng festzuhalten ist, und untersagte alle nervösen und hysterischen rubati, die dem epischen Charakter der Sinfonie […] zuwider sind.“ (Schalk, S. 85). Seit dem Zweiten Weltkrieg kam dessen ungeachtet auch bei Bruckner allmählich die Gepflogenheit auf, zusätzlich zur übertriebenen Agogik auch das Vibrato enorm zu intensivieren, die große Linie durch immer mehr Sostenuto-Spiel zu vergrößern und gleichsam jedes Detail mit Ausdruck zu überladen. Dies zeigt sich auch in den Tempi: Zieht man für die Untersuchung der Entwicklung der Aufführungspraxis im 20. Jahrhundert die Diskografie und die Zeitdauer der Einspielungen seit etwa 1926 (erste Gesamt-Einspielung der Siebenten unter Oscar Fried [1871–1941]) heran (vgl. z. B. die umfangreiche Bruckner-Discography von John F. Berky unter https://www.abruckner.com oder die Studie von Benjamin-Gunnar Cohrs zur Diskografie von Bruckners Neunter), stellt sich heraus, dass seit etwa den 1950er Jahren in vielen Aufnahmen die Tempi langsamer wurden, insbesondere bei den Kopfsätzen und langsamen Sätzen. Besonders prägend waren hier zunächst Wilhelm Furtwängler, Eugen Jochum und Herbert von Karajan.

Passend zum Bild vom weihevollen Monumental-Symphoniker (Rezeption) wurden lange die Letztfassungen (Fassungen) der Symphonien bevorzugt. Seit der Veröffentlichung der Urfassungen der frühen Symphonien in den 1970er Jahren erklingen diese allmählich häufiger. Dabei ist allerdings festzustellen, dass auch hier die oft rascheren Tempobezeichnungen Bruckners meist ignoriert werden: Der kühne Sturm-und-Drang-Charakter dieser Werke weicht dann dem pathetisch-grandiosen Stil, den viele Interpreten bis heute v. a. den späteren Werken zuschreiben. Die ursprüngliche Nähe Bruckners zu Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn, aber auch zu Ludwig van Beethoven, Hector Berlioz, Felix Mendelssohn Bartholdy, Franz Schubert, Robert Schumann, Louis Spohr (1784–1859) und Carl Maria von Weber (1786–1826) wird dadurch meist verkannt.

Die Überbetonung der großen Linie und Ausdrucksüberladung des Details zieht bei Bruckner auch einen Verlust der ursprünglich intendierten Beredsamkeit nach sich: Das Bewusstsein für die Schwerewirkungen im Rahmen der musikalischen Syntax ist bei Dirigenten heute erschreckend wenig ausgeprägt. Oft werden Bruckners eigene Artikulationsanweisungen sträflich vernachlässigt. Dies geht ebenso zu Lasten der Durchhörbarkeit der kontrapunktischen Faktur wie der heute immer noch weitgehend übliche Verzicht auf die antiphonale Aufstellung der Violinen, die zu Bruckners Zeit die Regel war (vgl. Instrumentation). Die heutige Verbreitung der amerikanischen Aufstellung mit allen Geigen zur Linken des Dirigenten geht erst auf Sir Henry Wood (1869–1944) zurück (Londoner Promenadenkonzerte seit 1913), wurde zunächst in Amerika aufgegriffen und erst seit den 1950er Jahren auch in Europa allmählich heimisch, dem Vorbild von Furtwängler, Karajan und Leonard Bernstein folgend – ungeachtet der Tatsache, dass andere bekannte Dirigenten (Otto Klemperer, Rudolf Kempe) immer an der traditionellen „deutschen“ Orchesteraufstellung festhielten. Zu Lasten der kontrapunktischen Durchhörbarkeit geht auch die immer noch verbreitete Auffassung, Bruckner habe die Klangvorstellung von der Orgel her auf das Orchester übertragen, was viele Bruckner-Interpreten zu einem orgelartigen Klang verleitet. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass Bruckner im Orchester Möglichkeiten vorfand, die ihm die Orgel gerade nicht bot – weitaus flexiblere Dynamik und Artikulationsfähigkeit.

Der Bruckner-Forscher und Kritiker Manfred Wagner kam beim Linzer Bruckner Symposion 1982 in seinem Versuch einer Interpretation – Bruckners Fünfte auf Schallplatte zu dem Schluss, dass es in der Aufführungspraxis von Bruckners Werken die These einer „absichtlichen oder unabsichtlichen Anpassung an die herrschenden Klischees“ (Wagner, S. 68) gäbe. Für die Fünfte fand er damals keine einzige Einspielung, „die guten Gewissens als Lehrbeispiel für eine klanglich getreue Umsetzung des Brucknerschen Notentextes zu empfehlen wäre.“ (Wagner, S. 68). Diese Erkenntnis ließe sich sicherlich auf viele heute übliche Bruckner-Aufführungen übertragen. Wagner befürchtete, dass „die Bildung des Vorurteils bzw. der Scheinvertrautheit mit dieser Musik jedwede Innovation verhindert.“ (Wagner, S. 68). Die Bruckner-Forschung und -Interpretation haben auf diesem Gebiet noch viel nachzuholen.

Literatur

BENJAMIN-GUNNAR COHRS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 22.5.2018

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