Argentinien (Rezeption)
In der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden in Argentinien vorwiegend Werke von Ludwig van Beethoven, Robert Schumann und Johannes Brahms gespielt; auf dem Gebiet der Oper standen Dramen von Richard Wagner im Zentrum des Interesses (1910 wurde in Buenos Aires die Asociación Wagner gegründet). Die Begeisterung für die großen Werke Gustav Mahlers und damit auch Bruckners festigte sich in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zuletzt häufen sich Mahler- bzw. Bruckner-Symphonien in argentinischen Konzerten und die Werke der eingangs erwähnten deutschen Komponisten sowie Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840–1893) treten in den Hintergrund.
Mit Ausnahme der Symphonie in f‑Moll („Studiensymphonie“) sind bereits sämtliche Symphonien Bruckners in Argentinien erklungen. Lokale Erstaufführungen fanden weitgehend im Umfeld der Stadt Buenos Aires statt. Von Orchestern der Provinzen sowie von Gastorchestern sind keine Aufführungsdaten gesichert. Die Vierte Symphonie wurde erstmals am 12.8.1910 von der nicht mehr existierenden Sociedad Orquestral Bonaerense unter der Leitung von Ferruccio Catellani (1867–1932) aufgeführt. Die Erstaufführung der Siebenten Symphonie war ein großes Ereignis. Sie fand am 21.8.1923 im Teatro Colón mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Richard Strauss statt und markierte gleichzeitig den zweiten Besuch des deutschen Komponisten in Argentinien. Das Orquesta de la Asociación del Profesorado Orquestral (APO), ein wichtiger, heute nicht mehr existierender Klangkörper der Stadt Buenos Aires, dem zu Beginn Ernest Ansermet (1883–1969) als Dirigent vorstand, führte am 18.8.1928 erstmals die Dritte Symphonie unter der Leitung von Clemens Krauss auf. Die Neunte Symphonie wurde am 29.8.1954 im Teatro Colón unter der Leitung von Teodoro Fuchs (1908–1969) mit dem damaligen Orquesta Sinfónica de la Ciudad de Buenos Aires, heute Orquesta Filarmónica de Buenos Aires, zum ersten Mal in Argentinien gespielt. T. Fuchs brachte auch die Fünfte Symphonie mit dem Orquesta Sinfónica Nacional am 3.8.1955 im Cine-Teatro Gran Rex, einem Saal von mittelmäßiger Akustik, in dem heute noch manchmal Konzerte stattfinden, und in dem 1949 Herbert von Karajan das Orquesta Sinfónica de la Ciudad de Buenos Aires bei seinem einzigen Besuch in Argentinien dirigierte, zur Erstaufführung. Die Achte Symphonie wurde am 1.8.1963 vom Orquesta Sinfónica de la Radio del Estado (damals LRA genannt, existierte nur drei Jahre) unter Franz-Paul Decker (1923–2014) im Salón de Actos de la Facultad de Derecho de la Universidad de Buenos Aires, einem Raum mit mangelhafter Akustik, der bis heute als Konzertsaal verwendet wird, erstaufgeführt.
Die übrigen vier Symphonien Bruckners gelangten alle am Teatro Colón durch das Orquesta Filarmónica de Buenos Aires zur erstmaligen Aufführung: die Sechste Symphonie am 9.6.1969 unter Willem van Otterloo (1907–1978), die Erste Symphonie (in der Ausgabe von Leopold Nowak) am 13.8.1973 unter Claudio Guidi Drei (1927–2013), die Symphonie in d‑Moll („Annullierte“) am 7.8.1995 unter Leopold Hager (* 1935) und die Zweite Symphonie (2. Fassung) am 13.5.1996 unter Berislav Klobučar (1924–2014). Am 16.10.1983 stellte Gennadi Roschdestwenski erstmals das Finale der 2. Fassung (1880) der Vierten im Teatro Colón mit dem Symphonischen Orchester des Kulturministeriums der UdSSR vor.
Weitere Orchester- und symphonische Chorwerke erlebten folgende Aufführungen: Das Te Deum erklang am 26.8.1938 durch das Orquesta Estable del Teatro Colón unter der Leitung von Erich Kleiber. Weitere Mitwirkende waren der Coro Estable del Teatro Colón mit den Solisten Anny Konetzni (Sopran), Risë Stevens (Mezzosopran), Koloman von Patáky (Tenor) und Emanuel List (Bass). Das Intermezzo in d‑Moll wurde vom Orquesta Sinfónica de la Ciudad de Buenos Aires unter der Leitung von T. Fuchs am 29.8.1954 im Teatro Colón aufgeführt. Dasselbe Orchester, nun Orquesta Filarmónica de Buenos Aires genannt, und der Coro Polifónico de Santa Fe brachten am 28.4.1980 im Teatro Colón unter Pedro Ignacio Calderón (* 1933) den Psalm 150 zur Aufführung. Die Drei Orchesterstücke wurden am 20.9.1980 im Centro Cultural San Martín vom Orquesta Sinfónica Provincial de Entre Rios unter Reinaldo Zemba (1949–2012) aufgeführt. Die Ouvertüre in g‑Moll wurde ebenfalls von Zemba und dem Orquesta Sinfónica Provincial de Entre Rios am 20.3.1984 im Teatro Presidente Alvear gespielt.
Die Messe in e‑Moll wurde am 1.11.1990 im Teatro Colón vom Orquesta Filarmónica de Buenos Aires und dem Coro Laún Onak unter Calderón aufgeführt. Das Requiem in d‑Moll (WAB 39) erlebte seine erste Aufführung am 3.11.1995 im Auditorio de Belgrano mit dem Orquesta Domina Rerum unter Fernando Álvarez (1929–2013) und den Solisten Marcelo Álvarez (Tenor), Patricia Gutiérrez (Sopran), Alejandra Malvino (Mezzosopran), Darío Volonté (Tenor) und Juan Barrile (Bass), dem Coro de Cámara de Adrogué, der Camerata Vocal de Belgrano, der Grupo Coral Santa Rita und dem Coro de la Facultad de Ingeniería de la Universidad de Buenos Aires. Die Messe in f‑Moll kam am 13.11.1995 unter Hans Rudolf Zöbeley (1931–2007) mit dem Orquesta Filarmónica de Buenos Aires im Teato Colón zur Erstaufführung.
Gegenwärtig haben sowohl das Orquesta Sinfónica Nacional unter der Leitung von Calderón als auch die Filarmónica de Buenos Aires unter Enrique Arturo Diemecke (* 1955) Werke von Bruckner in ihrem Repertoire. Auch andere Dirigenten gaben in den letzten Jahren mit diesen Orchestern ihre eigenen Bruckner-Interpretationen, so Stefan Lano (* 1952), Carlos Vieu (* 1966) – beide mit dem Orquesta Estable del Teatro Colón – oder Bruno D‘Astoli (* 1934).
Ausländische Gastorchester bringen ebenfalls, wenn auch weniger häufig, Bruckner-Werke in Argentinien zur Aufführung. Man erinnere sich an die Interpretationen von Simon Rattle (* 1955) mit dem City of Birmingham Orchestra (Neunte) oder von Lorin Maazel mit dem Bayerischen Rundfunkorchester (Siebente). Ohne Zweifel das größte Ereignis war 2008 die Interpretation der Siebenten, Achten und Neunten Symphonie mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim im Teatro Coliseo (das Teatro Colón war wegen Renovierung geschlossen). Nach der erfolgreichen Erstaufführung der Achten durch Decker, die eine regelmäßige Rückkehr des Dirigenten nach Argentinien bedingte, war dies der größte Erfolg eines Bruckner-Zyklus in Argentinien. Dies bewirkte eine Auseinandersetzung mit Bruckners Werk, wie sie bisher nicht stattgefunden hatte, nicht nur durch die inhaltsreiche Pressekonferenz von Barenboim, sondern auch durch die unübertreffliche Qualität der Interpretation.
Literatur
- Ramón Barce, Bruckner de moda, in: Buenos Aires Musical 25 (1970) H. 410, S. 3
- Richard Klatowsky, Anton Bruckner. Canto lo mas intimo como lo mas grandioso, in: Buenos Aires Musical 29 (1974)
- Richard Klatowsky, El sesquicentenario de Anton Bruckner, in: Buenos Aires Musical 29 (1974) H. 465, S. 1
- Carmen García Muñoz/Guillermo Stamponi, Orquesta Filarmónica de Buenos Aires 1946–2006. Buenos Aires 2007, S. 61, 65, 241
- Verzeichnis der bisher bekannten Erstaufführungen von symphonischen Werken in Buenos Aires von Julio Palacio (1944–2008)
- Mitt. Marta Lugo de Palacio (2010)