Tschechien (Rezeption)

Die musikalischen Zentren sind in Tschechien erwartungssgemäß Prag und Brünn. In Prag wurde am 17.2.1886 mit dem Te Deum durch den Deutschen Singverein im Neuen Deutschen Theater zum ersten Mal ein Bruckner-Werk aufgeführt. Am selben Abend wurde mit dem Orchester des Theaters unter Karl Muck die Siebente Symphonie gespielt, am 18.4.1886 das Scherzo der Dritten Symphonie unter Gustav Mahler. Weitere Aufführungen der Dritten fanden 1888, 1889 und 1891 statt. Im März 1896 dirigierte Felix Dorfner (1851–1923) die Zweite Symphonie. Nach Bruckners Tod wurden die Vierte (1896 unter Franz Schalk), das Te Deum (1897) und die Fünfte (1898 unter F. Schalk) aufgeführt. Weitere Aufführungen der Zweiten, Vierten, Siebenten, Achten und Neunten Symphonie leiteten Leo Blech (1872–1958), Paul Ottenheimer (1873–1951) und Alexander Zemlinsky (1872–1942); sie fanden meist in den Philharmonischen Konzerten des Neuen Deutschen Theaters statt. Allerdings stand die Tschechische Philharmonie diesem Konzertangebot nicht nach – am 17.1.1900 wurde hier die Vierte unter Adolf Čech (1841–1903) aufgeführt, die folgenden Konzerte leitete ab 1903 meist Vilém Zemánek ([1875–1922], Erste und Dritte bis Achte Symphonie), ferner auch Oskar Nedbal ([1874–1930], 1902) und Rudolf Schwarz ([1905–1994], Dritte 1916). Bis zum Jahre 1918 erklangen in Prag (nach heutigem Wissensstand) alle Symphonien mit Ausnahme der Symphonie in d‑Moll („Annullierte“); überdies gab es Aufführungen des Te Deum und des Psalm 150 (1901) vom Deutschen Männergesangverein und dem Deutschen Singverein (Chormeister Friedrich Hessler [1838–1910]).

Eine rege Bruckner-Pflege entwickelte sich bis 1918 in Brünn im Zusammenhang mit der Wirkung von Otto Kitzler. Er dirigierte die wichtigen frühen Aufführungen ab 1888, am 13.4.1888 zum ersten Mal das Te Deum mit Chor und Orchester des Brünner Musikvereins; als erstes symphonisches Werk erklang die Vierte am 21.4.1893. Sein Nachfolger im Amt, Karl Frotzler (1873–1960), setzte die Tradition fort. Ein weiterer Bruckner-Pionier, August Emanuel Veit (1856–1931), Dirigent der Brünner Philharmoniker, leitete vor dem Ersten Weltkrieg die meisten Bruckner-Aufführungen. In der Statistik des symphonischen Repertoires der damaligen Zeit nimmt Bruckner nach Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms und Robert Schumann den 4. Platz ein. Mit Ausnahme der Sechsten waren hier bis 1918 alle Bruckner-Symphonien zu hören.

Bedeutende Bruckner-Aufführungen gab es allerdings vor 1918 auch in anderen Städten der böhmischen Länder – die erste Bruckner-Aufführung in Troppau in Österreichisch-Schlesien war die der Vierten im Konzert des Troppauer Männergesangvereines (Bruckner war Ehrenmitglied) unter dessen Chormeister Friedrich Keitel am 19.4.1893. Bruckners Schüler Ludwig Grande führte hier die Siebente im Juni 1896 (ferner am 20.12.1905 und 27.11.1912; das Adagio aus der Siebenten 1898 und 1902) auf. In Znaim (Znojmo) setzte Heinrich Fiby (1834–1917) mit dem Znaimer Musikverein (Te Deum) und in Olmütz Wladimir Labler (1847–1914) mit dem Olmützer Musikverein Bruckner-Werke durch (hier die Dritte am 11.12.1904, die Fünfte am 23.10.1910); in Trautenau (Trutnov) bemühte sich Max Heyda (1867–1952) mit dem um eine Streichergruppe erweiterten Militärorchester aus Josefstadt (Josefov) schon zwischen 1900–1905 um Bruckner, in Graslitz (Kraslice) Christian Vinzl mit dem dort ansässigen Musikverein. Der Warnsdorfer Männergesangverein (Warnsdorf) führte erstmals 1886 das Te Deum auf; in Mährisch Ostrau (Ostrava) beteiligte sich 1910 sogar der tschechische Gesangverein Lumír an der Einstudierung des Te Deum (wahrscheinlich in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Männergesangverein). In Karlsbad sollte es schon zu Lebzeiten Bruckners zur Aufführung der Dritten Symphonie kommen, doch gelang es dem Dirigenten des Karlsbader Kurorchesters, August Labitzky (1732–1903), erst am 4.5.1900, den ursprünglichen Plan zu realisieren. Labitzkys Nachfolger Martin Spörr leitete die Siebente (1904) und die Neunte (1906), Franz Zeischka (1869–1909) die Achte. Robert Manzer (1877–1942) führte hier bis 1914 mehrmals die Dritte, Vierte, Fünfte und Siebente Symphonie auf. In Teplitz (Teplice) feierte 1909 das Kurorchester unter Johann Reichert (1876–1942) mit der Aufführung der Ersten Symphonie einen großen Erfolg.

Zu den Protagonisten der Bruckner-Rezeption in Prag der Zwischenkriegszeit zählen A. Zemlinsky, der u. a. die Ouvertüre in g‑Moll zur Aufführung brachte, aber auch Otto Klemperer (Achte 1923) und Hans Wilhelm Steinberg (1899–1978). In den 1930er Jahren bemühte sich George Andreas Széll um den Komponisten in Prag wie auch auf dem Lande (Reichenberg [Liberec] 1936 u. a.), ähnlich wie Heinrich Swoboda (1897–1990) mit dem Deutschen Männergesangverein (Messe in f‑Moll 1936). Häufige Bruckner-Konzerte gab es in den 1920er bis in die frühen 1940er Jahre mit der Tschechischen Philharmonie, und zwar in erster Linie unter der Leitung von Václav Talich (1883–1961). Nach Otakar Šourek (1883–1956) hat Talich die tschechischen Zuhörer für Bruckners Musik gewonnen. Er trug die Symphonien im Rahmen der Volkskonzerte vor und reiste in mehrere tschechische Städte (Pardubitz [Pardubice], Königgrätz [Hradec Králové], Böhmisch Leipa [Česká Lípa], Mělník u. a.) sowie nach Unterkarpaten-Russland (damals Teil der Tschechoslowakei). Er hatte Bruckners Musik während seines mehrjährigen Gastdirigates in Stockholm (1926–1936) kennengelernt und in sein Repertoire aufgenommen.

Für die sudetendeutsche Musikkultur in der Tschechoslowakei ist Bruckner seit den 1920er Jahren ein wichtiges Symbol. 1924 nahmen die Bruckner-Aufführungen ein gewisses Gegengewicht zu den Smetana-Feiern der Tschechen ein. In Troppau leitete L. Grande das Te Deum am 1.12.1924 mit den Chören der Troppauer Singakademie und des Deutschen Volksgesangvereines Liederkranz. Vom Troppauer Männergesangverein wurde am 18.11.1924 ein Festkonzert zu Bruckners 100. Geburtstag veranstaltet, am 18.2.1935 leitete Leopold Ludwig (1908–1979) die Vierte, Chormeister Viktor Werber (1896–1972) gliederte die Messe in e‑Moll in der Propsteipfarrkirche in den liturgischen Rahmen ein. Auch Aufführungen in Znaim (die Vierte unter Albert Weinschenk [1890–1976] in den 1920er Jahren), Sternberg (Šternberk; Te Deum 1926) oder Jägerndorf (Krnov; Messe in C‑Dur unter Konrad Schmitz 1937) waren erfolgreich. Unter den jüngeren Verehrern der Musik Bruckners findet man u. a. die Kapellmeister Leo Franz (* 1895) in Aussig (Ústí nad Labem) wie auch Maximilian E. Thamm in Franzensbad (Františkovy Lázně), den städtischen Musikdirektor O. K. Wille in Teplitz oder den Chormeister Hugo Wagner (1873–1951) in Reichenberg, der mit seinem Lehrergesangverein Silcher u. a. Bruckners Messe in f‑Moll (1925) und das Te Deum (1930) einstudierte.

In Karlsbad gab es regelmäßig Aufführungen (1910–1937 insgesamt 110 Aufführungen) von Bruckner-Symphonien und dem Te Deum unter der Leitung des städtischen Generalmusikdirektors R. Manzer, Begründer der ersten Brucknergemeinde in Böhmen (1929). Als Dirigent von Bruckner-Symphonien war er in Reichenberg, Brünn, Dresden, Leipzig und Bukarest erfolgreich. Im Juni 1935 wirkte er als Festdirigent des Bruckner-Sinfonie-Orchesters beim Prager Katholikentag mit. Das Manzer-Quartett hatte Bruckners Streichquintett in F-Dur im Repertoire. Unter dem nationalsozialistischen Druck von 1941 beendete Manzer seine leitende Funktion mit der Aufführung von Bruckners Dritter Symphonie.

Ende der 1920er Jahre wurde auch Leitmeritz (Litoměřice) zu einem wichtigen Bruckner-Zentrum. Führende Persönlichkeit war der Domkapellmeister Franz Zeman (1882–1949), der 1929 die Deutsche Brucknergemeinde gründete und unter der Schirmherrschaft der Leitmeritzer Bischöfe mehrere Aufführungen initiierte (u. a. zwei Brucknerfeste 1930 und 1936; Bruckner-Gesellschaften). Die 1934 in Prag gegründete Brucknergemeinde beteiligte sich mit Bruckner-Aufführungen bedeutend am Prager Katholikentag; im Juni 1935 und im Herbst 1936 veranstaltete sie Bruckner-Feiern unter der Beteiligung mehrerer deutscher Gesang- und Musikvereine aus Prag. Zu gleicher Zeit (1935) wurde auch in Aussig eine Bach-Bruckner-Gemeinde gegründet, 1936 folgte noch jene in Bodenbach (Podmokly) bei Tetschen (Děčín). Die an sich verdienstvollen Aktivitäten der Brucknergemeinden wiesen aber schon bald starke ideologisierende und nationalistische Tendenzen auf. Bruckners Werke wurden als Gegenpart zu den modernen Werken (etwa eines Bohuslav Martinů [1890–1959] oder Ernst Krenek [1900–1991]) empfunden. Während des Zweiten Weltkrieges wurden die meisten Aktivitäten in enger Zusammenarbeit mit der Nazi-Verwaltung durchgeführt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Rafael Kubelík seine Bruckner-Aufführungen mit der Tschechischen Philharmonie fort (Jänner 1948 die Achte). Es folgten 1950 Klemperer mit der Siebenten Symphonie sowie Karel Ančerl (1908–1973), Franz Konwitschny und Karel Šejna (1896–1982), die in den 1950er Jahren mit der Tschechischen Philharmonie arbeiteten. Ab 1960 häuften sich die Aufführungen, besonders verdient machten sich dabei Lovro von Matačić, Václav Neumann oder später Gerd Albrecht (1935–2014). Selten gespielte Symphonien wurden von Gennadi Roschdestwenski (Symphonie in d‑Moll 1973), V. Neumann (Erste 1981) und Thomas Dausgaard ([* 1963]; Zweite 2008) aufgeführt.

Am Musikfestival Prager Frühling war Konwitschny der erste, der 1954 mit dem Gewandhausorchester die Siebente aufführte. Es folgten mehrere Gastspiele weiterer ausländischer Orchester (Wiener Philharmoniker, Royal Philharmonic Orchestra London, Concertgebouw orkest, Zagreber Philharmonie, Orchestre de Paris, Münchner Philharmoniker, City of Birmingham Orchestra u. a.) mit den Dirigenten Karl Böhm, Rudolf Kempe, Kurt Masur, Bernard Haitink, Matačić, Daniel Barenboim, Riccardo Chailly, Sergiu Celibidache, Sir Simon Rattle (* 1955) usw. Die Tschechische Philharmonie wurde beim Festival von Lorin Maazel (1968), Zubin Mehta (1972), Gustav Kuhn ([* 1945]; 1989), Zdeněk Košler ([1928–1995]; 1981) und G. Albrecht (1994) dirigiert. Das Symfonický orchestr hlavního města Prahy FOK [Prager Symphoniker FOK] leitete Gaetano Delogu ([* 1934]; 1987). Sehr spärlich waren hier bisher die Aufführungen geistlicher Vokalwerke (Thomanerchor Leipzig 1971, Dresdner Kreuzchor 1978, Gesangverein Hlahol 2000). Insgesamt gab es beim Prager Frühling in den Jahren 1946–2009 27 Bruckner-Aufführungen.

Heute gehören die Symphonien Bruckners zum Stammrepertoire mehrerer symphonischer Orchester in Tschechien (Prager Symphoniker FOK unter der Leitung von Jiří Kout [* 1937], Symphonisches Orchester des Tschechischen Rundfunks unter Ondřej Kukal [* 1964] u. a.).

Einzelne Symphonien wurden von der tschechischen Firma Supraphon aufgezeichnet – die Tschechische Philharmonie unter Konwitschny 1952 spielte die Vierte ein (erschienen 1953, 2000), unter Matačić 1967 die Siebente (erschienen 1967, 2004), 1970 die Fünfte (erschienen 1972, 2007) und 1980 die Neunte (erschienen 1983, 1991). Unter der Leitung von Libor Pešek (* 1933) wurden die Siebente Symphonie und die Ouverture in g‑Moll (2008) eingespielt; die Neunte Symphonie wurde mit der Philharmonie Hradec Králové unter Andreas Sebastian Weiser ([* 1963]; 2008) auf CD aufgenommen.

Für die Rezeption der Kirchenmusik hat sich seit dem Anfang der 1990er Jahre besonders der Tschechische philharmonische Chor Brünn unter der Leitung von Petr Fiala (* 1964) eingesetzt – die Aufnahmen von Bruckners geistlichen Motetten (Musikproduktion Dabringhaus 2006) wurde mit dem deutschen Preis „Echo Klassik 2007“ ausgezeichnet. Ferner spielte der Chor zusammen mit der Philharmonie Brünn unter der Leitung von Enoch zu Guttenberg (1946–2018) das Te Deum und die Messe in e‑Moll auf CD (Sony Music Entertainment 1996) ein. Immer mehr Chöre nehmen Bruckners Werke ins Repertoire auf, 1998 nahmen die Mährischen Madrigalisten Bruckners Os justi auf CD auf.

Die Bruckner-Forschung entwickelt sich im Rahmen der Forschung über die Geschichte der deutschsprachigen Musikkultur der böhmischen Länder. Die Musikwissenschaftlerinnen Jitka Bajgarová (früher Brabcová) und Jarmila Gabrielová beschäftigen sich im Kabinett für Musikgeschichte des Ethnologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften in Prag mit Bruckner. In den Musikzeitschriften (z. B. Harmonie, Opus musicum, Hudební rozhledy) werden Konzerte und CDs besprochen.

Literatur

JITKA BAJGAROVÁ, JARMILA GABRIELOVÁ

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 23.9.2020

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