Konzertleben
Das 19. Jahrhundert steht im Zeichen einer deutlichen Akzentverlagerung von privaten bzw. halböffentlichen Veranstaltungen zum öffentlichen, professionellen Konzertbetrieb. In seiner Linzer Zeit befand sich Bruckner noch in typisch biedermeierlichem Ambiente: zwischen privaten musikalischen Zirkeln, Kirchenmusik und Vereinen. Er selbst nahm darin aktiv als Domorganist, Chorleiter, Klavierbegleiter, Vereinsarchivar und Komponist von Gelegenheitskompositionen teil, wobei in der Regel relativ enge Beziehungen zu Institutionen, Widmungsträgern oder Publikumsschichten bestanden.
Mit seiner Übersiedlung nach Wien kam er in den Einflussbereich eines großstädtischen Musiklebens. Da Bruckner bekanntlich seinen erklärten „Lebensberuf“ als „Symphoniker“ sah, geriet er rasch in das ästhetische Spannungsfeld der Konzertszene, die vom Parteienstreit zwischen „Brahminen“ und „Wagnerianern“ geprägt war. Aber auch Bruckners allgemeine Künstlererscheinung passte nicht recht zur hochrepräsentativen Gattung Symphonie. Ebenso spielten weltanschauliche Inhalte eine gewichtige Rolle: „Bei den Aufführungen eines neuen Werkes von Brahms konnte man wahrnehmen, wie mächtig sich die protestantische Gemeinde ins Zeug legte, während bei Bruckner der tosende Lärm von den Christlich-Sozialen ausging.“ (Bachrich, S. 99f.). Zu ergänzen sind hier jene Wagnerianer-Kreise, die vereinnahmend Bruckner-Aufführungen heftig akklamierten und durch dieses Verhalten zu Widerspruch reizten.
Neben der Hofoper waren damals die wichtigen Institutionen des Musiklebens die Hofmusikkapelle, die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und die Wiener Philharmoniker, die auch für Bruckner-Aufführungen eine bedeutsame Rolle spielten. Daneben gab es noch eine Vielzahl größerer Vereine wie den Wiener Schubertbund, den Wiener Männergesang-Verein, den Wiener Akademischen Gesangverein und den Wiener Akademischen Wagner-Verein. Vorrangig zu den beiden letztgenannten bestanden enge Beziehungen durch aktive Freundeskreise.
Die Lockerung der politischen Restaurationsphase sowie der Liberalismus brachten einen allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung. Damit verbunden war eine breite Fächerung der musikalischen Aktivitäten. Virtuosenkult, Massenveranstaltungen (z. B. Sängerfeste), Tanzmusik der Familie Strauss, national getönte Männerchor-Abende und Salonmusik gehörten ebenso zum bunten Erscheinungsbild wie Philharmonische Konzerte und Kirchenmusik-Aufführungen in der Hofmusikkapelle. Die neuen Bauten der Hofoper und des Musikvereins bildeten eine wichtige Grundlage für das öffentliche Konzertleben und die soziale Repräsentation des Wiener Bürgertums. Musik spielte auch bei der Weltausstellung Wien 1873 und der Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen 1892 eine gewichtige Rolle. So war Bruckner mit der Uraufführung seiner Zweiten Symphonie im Rahmen der Schlussfeier der Weltausstellung vertreten. Im Übrigen war dies das einzige Konzert mit den Wiener Philharmonikern unter seiner Leitung. Daneben wurden die Zweite (in der 2. Fassung), die Dritte Symphonie sowie das Te Deum (Orchesterfassung) und der Psalm 150 vom Orchester der Gesellschaftskonzerte der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien uraufgeführt. Dies waren aber Ausnahmen, da die Konzertreihe in der Regel keine Experimente mit neu komponierten Werken vorsah.
Eduard Hanslick charakterisierte die Epoche von 1848–1868 als „‚Musikalische Renaissance‘“ (Hanslick, S. XII), womit er die Pflege von Werken Johann Sebastian Bachs und Georg Friedrich Händels (1685–1759) meinte. Neben den „Klassikern“ verwies er auf die „richtige Werthschätzung Franz Schubert‘s“, die „allmäliche Erkenntniß und Pflege Rob. Schumann‘s“ (Hanslick, S. 427) und des späten Ludwig van Beethoven. Damit sind wichtige Markierungspunkte, wenn auch im Detail nicht ganz exakt, in der Programmpolitik angesprochen, die in gewisser Weise auch das spätere Bild vorwegnehmen. So zeigt eine Studie zum orchestermusikalischen Repertoire der Philharmonischen Abonnementkonzerte unter Hans Richter (1875/76–1897/98), der sich sowohl für Johannes Brahms als auch für Richard Wagner und Bruckner einsetzte, die signifikante Dominanz von Beethoven, mit großem Abstand gefolgt von Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Brahms und Wolfgang Amadeus Mozart (Szabo-Knotik, S. 149ff.). Rein auf Symphonik bezogen rangiert Bruckner in dieser Liste an 9. Stelle. Nicht zu unterschätzen sind in diesem Zusammenhang der große Umfang und die moderne Tonsprache seiner Symphonien, die sich mit damaligen Programmvorstellungen bzw. bildungsbürgerlichen Hörerwartungen oft nicht deckten. Trotz der konservativ orientierten philharmonischen Programmpolitik und einer anfänglichen, wohl von Felix Otto Dessoff gelenkten Ignoranz wurden schließlich die Erste (2. Fassung), die Dritte (2. und 3. Fassung), Vierte (2. und 3. Fassung) und Achte Symphonie (2. Fassung) doch zu Lebzeiten des Komponisten in Wien aufgeführt, außerdem die Mittelsätze der Sechsten.
Rechnet man nun weitere wichtige Aufführungen hinzu – etwa die fulminante Uraufführung der Siebenten in Leipzig oder Erstaufführungen in Amerika (New York, Boston, Chicago) –, lässt sich das Bild vom verkannten Künstler vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund nicht länger halten. Gewiss, Bruckner stand nicht in der vordersten Reihe, er war aber keineswegs in der Konzertöffentlichkeit unbeachtet. Eine Untersuchung weist insgesamt rund 180 Aufführungen von Bruckner-Symphonien im Zeitraum bis 1900 nach (Fuchs, S. 85). Auch die Urteile in der Tagespresse (Pressewesen zur Zeit Bruckners) fielen keinesfalls einhellig negativ aus, sondern sind vielmehr nach Blattlinie, Rezensent und Zeitraum zu differenzieren (Bruckner‑Symposion 1991, S. 81–104; Rezeption).
Kleinere, teils auch exklusive Publikumskreise hatte Bruckner bei engagierten Klavieraufführungen seiner Symphonien. Als Beispiel hierfür sei die Uraufführung der Fünften Symphonie auf zwei Klavieren im Wiener Bösendorfersaal (1887) genannt.
Einen eigenen Bereich stellen Aufführungen seiner Kirchenmusik (Hofmusikkapelle, St. Augustin) und seiner Männerchöre (Wiener Männergesang-Verein, Wiener Akademischer Wagner-Verein) dar.
Literatur
- Eduard Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien. Wien 1869 (Reprint Hildesheim 1979)
- Siegmund Bachrich, Aus verklungenen Zeiten. Erinnerungen eines alten Musikanten. Wien 1914
- Othmar Wessely, Das Linzer Musikleben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Stadt Linz 1953. Linz 1954, S. 283–442
- Bruckner in WienManfred Wagner u. a., Anton Bruckner in Wien. Eine kritische Studie zu seiner Persönlichkeit (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 2). Graz 1980
- Cornelia Szabo-Knotik, Prestige von Symphonik in der Ära Hans Richters, in: Bruckner‑Symposion 1989Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Symposion. Orchestermusik im 19. Jahrhundert. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1989. 20.–24. September 1989. Bericht. Linz 1992, S. 147–159
- Bruckner‑Symposion 1991Othmar Wessely (Hg.), Bruckner-Symposion. Bruckner-Rezeption. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1991. 18.–22. September 1991. Bericht. Linz 1994
- Ingrid Fuchs, „Künstlerische Väter“ und „Vormünder“. Bruckner und die zeitgenössischen Dirigenten seiner Symphonien, in: Bruckner‑Symposion 1994Othmar Wessely u. a. (Hg.), Bruckner-Symposion. Bruckner-Freunde – Bruckner-Kenner. Im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1994. 21.–25. September 1994. Bericht. Linz 1997, S. 65–85
- Gernot Gruber, Nachmärz und Ringstrassenzeit, in: Rudolf Flotzinger/Gernot Gruber (Hg.), Musikgeschichte Österreichs. Wien 1995, Bd. 3, S. 15–90
- Dom- und StadtpfarrorganistElisabeth Maier, Anton Bruckner als Linzer Dom- und Stadtpfarrorganist. Aspekte einer Berufung. Mit einem Beitrag von Ikarus Kaiser (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 15). Wien 2009