Psalmen (WAB 34–38)
(griech. „psalmos“ = „Saitenspiel“, „Gesang“) werden die spätestens im 2.
Jahrhundert v. Chr. zum Psalter vereinigten, zwischen 1000 und 165 v. Chr.
entstandenen 150 religiösen Gesänge Israels genannt. Durch die im 3. Jahrhundert
n. Chr. erfolgte Übernahme der Psalmen in das christliche Stundengebet formten
sie und ihre starke Bildsprache nicht nur das religiöse Leben, sondern auch die
bildnerische, literarische und musikalische Entwicklung des Abendlandes auf das
Nachhaltigste. Haben die Psalmen im katholischen Bereich v. a. in den festlichen
Vesper-Kompositionen ihren Platz, finden sich Vertonungen einzelner Psalmen in
deutscher Sprache besonders im protestantischen Raum. Bruckners Psalmen sind solche
Einzelvertonungen; als Textvorlage (mit Ausnahme des Psalmes 150) benützte er die
päpstlich approbierte deutsche Vulgata-Übersetzung von Franz Allioli (1793–1873; Bibelkenntnis Bruckners).
Die Zählung der Psalmen differiert in der lateinisch-griechischen und der (heute
üblichen) hebräischen Tradition. Bruckner richtete sich nach der zu seiner Zeit
üblichen lateinischen Zählung, kannte jedoch auch die hebräische, wie seine mit
„Psalm 114 (116)“ überschriebene Textabschrift zu Psalm 114 zeigt. Er
vertonte aus dem „Buch der Psalmen“ insgesamt fünf Gesänge für verschiedenste
Besetzungen. Von der Thematik her wählte er überwiegend solche, die Lobpreis und
Jubel ausdrücken: Die Psalmen 112 und 114 (heute 113 bzw. 116) stammen aus dem
sogenannten Hallel, einer Psalmengruppe, die zu bestimmten Festen – u. a. dem
Pessach – gesungen wurde. Auch die Psalmen 146 (heute 147) und 150 sind Hymnen, eine
in der religiösen Dichtung Israels besonders häufige literarische Gattung. Thematisch
sind die Psalmen 112 (113), 114 (116) und 146 (147) besonders von der Güte
Gottes gegenüber den Armen und Erniedrigten und von deren jubelndem Dank geprägt,
während Psalm 150 gleichsam ein Kompendium alttestamentlichen Musizierens
darstellt: Zum Lob Gottes werden alle wichtigen Musikinstrumente des Tempelorchesters
aufgerufen – Hörner und Harfe, Zither und Zimbeln, Pauken, Flöten und Saitenspiel
sollen Gott preisen, und der Mensch tanzt dazu wie David vor der Bundeslade. In den
40 Jahren zwischen seiner ersten (Psalm 22) und letzten
(Psalm 150) Psalmvertonung durchschritt Bruckner die
ganze Bandbreite seiner stilistischen Entwicklung.
Literatur
- Paul Hawkshaw, Die Psalmkompositionen Anton Bruckners, in: Bruckner-Probleme 1996Albrecht Riethmüller (Hg.), Bruckner-Probleme. Internationales Kolloquium 7.–9. Oktober 1996 in Berlin (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 45). Stuttgart 1999, S. 71–84
- Paul Hawkshaw, Die Psalmkompositionen Anton Bruckners, in: Bruckner-Tagung 1999Elisabeth Maier/Andrea Harrandt/Erich Wolfgang Partsch (Hg.), Bruckner-Tagung Wien 1999. 11.–13. November 1999. Bericht (Bruckner-Vorträge). Wien 2000, S. 7–19
- Melanie Wald-Fuhrmann, Geistliche Vokalmusik, in: Bruckner-Handbuch 2010Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Bruckner-Handbuch. Stuttgart–Weimar 2010, S. 224–289
Psalm 22 (WAB 34) „Der Herr regieret mich“
Vertonung von Psalm 22 (23) für Soli (SATB), vierstimmiger gemischter Chor und
Klavier in Es-Dur, „Nicht zu langsam“
In dieser Komposition, die während Bruckners Zeit als provisorischer Stiftsorganist
in St. Florian entstanden ist, und die, wie vermutet wird (s. Wald-Fuhrmann), während
der regelmäßig stattfindenden Konzerte im Stift uraufgeführt wurde, sind sowohl die
Ergebnisse der Studienzeit bei Leopold von
Zenetti (besonders die kontrapunktische Arbeit) als auch Einflüsse und Vorbilder der
Frühromantik (Franz Schubert, Felix Mendelssohn
Bartholdy) festzustellen.
Der von pulsierender Klavierbegleitung (12/8-Takt) gestützte 1. Teil („Der Herr
regieret mich und nichts wird mir mangeln“) ist zu Beginn homophon gehalten, doch
verdichtet sich der Satz allmählich zur Steigerung der Eindringlichkeit
(imitatorische Einsätze bei den Textstellen „So will ich nicht Übles fürchten“, „Du
hast bereitet einen Tisch“, „wie herrlich ist er“, „Und deine Barmherzigkeit“), bis
er ab T. 43 in eine Fuge einmündet („Daß
ich wohne im Hause des Herrn auf lange Zeit“), die ihrerseits in einem
abschließenden, von Bruckner mit „Choral“ überschriebenen homophonen Schlussteil
gipfelt, in dem die Klavierbegleitung schweigt und der in langen, ruhigen Notenwerten
gehaltene Chorsatz das „Wohnen auf lange Zeit“ versinnbildlicht.
Neben der Uraufführung, die wahrscheinlich im Rahmen eines Stiftskonzertes ca. 1852
stattfand, sowie der ersten gesicherten Aufführung unter der Leitung von Franz Xaver
Müller am 11.10.1921 (ebenfalls in St. Florian), folgte bereits am 18.6.1932 im
Rahmen eines Haydn-Beethoven-Bruckner-Festkonzertes die Aufführung einer Bearbeitung des Psalms für großes Orchester
von Leopold Daxsperger im Festsaal des
Technischen Museums in Wien.
Literatur
- Melanie Wald-Fuhrmann, Geistliche Vokalmusik, in: Bruckner-Handbuch 2010Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Bruckner-Handbuch. Stuttgart–Weimar 2010, S. 224–289
- Wiener Zeitung 17.6.1932, S. 9
- [Linzer] Tages-Post 20.6.1932, Abendblatt, S. 3
- Reichspost 7.7.1932, S. 8
- Neues Wiener Tagblatt, Abendausgabe 5.7.1932, S. 5
Psalm 112 (WAB 35) „Alleluja! Lobet den Herrn, ihr Diener“
Vertonung von Psalm 112 (113) für zwei vierstimmige gemischte Chöre und großes Orchester (2 Fl., 2 Ob., 2 Klar., 2 Fg.,
2 Hr., 2 Trp., 3 Pos., Pk., Str.) in B-Dur, „Maestoso“
Die autografe Partitur fand sich im Nachlass
Bruckners und gelangte 1927 in die Musiksammlung der Österreichischen
Nationalbibliothek (ÖNB). Das Werk war das letzte, das Bruckner als Übung
für Kitzler schrieb. „Das Autograph bricht am Ende der Rückseite des letzten fol. ab
und endet im 5. Takt der Reprise des Eingangschors, die an die Fuge anschließt. Ob
die Partitur auf weiteren Blättern fortgesetzt wurde oder ob der Komponist nicht mehr
weiterschrieb, da er keinen Platz mehr hatte und sich daher auf eine angedeutete
Reprise des Eingangschors beschränkte, kann nicht festgestellt werden.“ (Hawkshaw, S.
155). In seinem Vorwort zum Erstdruck erwähnt
Wöss eine Kopie der Partitur, in die August
Göllerich Anmerkungen bezüglich der Wiederholung des ersten Teiles
eingetragen haben soll.
Der Psalm nimmt als Übergang von den Werken der Früh- zu jenen der Reifezeit auch
deshalb eine Sonderstellung ein, weil Bruckner, als er vor seiner Übersiedlung in die
letzte Wohnung im Belvedere rigoros „über seine Jugendwerke
strenges Gericht hielt, indem er vieles den Flammen übergab“ (Göll.-A. 3/1, S. 203),
u. a. die Urschrift dieses Werkes aufbewahrte. Allerdings hatte Bruckner nach dem
Sommer 1863 nie mehr an dem Psalm gearbeitet; auch eine Aufführung zu seinen
Lebzeiten ist nicht belegt.
Die Komposition beginnt doppelchörig „Maestoso“, wobei die beiden Chöre fallweise mit
kleinen imitatorischen Einsätzen übereinander geschichtet werden. Ab T. 71–113
folgt textbedingt ein „dialogisierender“, auch in der Orchesterbegleitung
„durchsichtigerer“ Mittelteil („Wer ist wie der Herr, unser Gott“), Teil 3, erneut
ein „Maestoso“, greift den Anfangsteil (verkürzt und variiert) auf, dann folgt (ab
T. 143) eine „Alleluja“-Fuge (bis T. 202). Den Schluss bildet eine
Wiederholung des Eingangschores (bis T. 71). So ergibt sich die Form
A‑B‑A‘‑C‑A.
Besonders hervorzuheben sind die subtile Tonmalerei (z. B. des Sonnenauf- und
‑untergangs), charakteristische Steigerungen, die Vorwegnahme mancher Themen aus
späteren Werken (im Mittelteil: Benedictus der Messe in d‑Moll; bei „Hoch
über alle Völker“: Andante der Zweiten Symphonie),
v. a. aber die stilistisch einheitliche, geschlossene Gesamtanlage des Werkes.
Da die Urschrift des Werkes nach dem 5. Takt der Reprise abbricht, galt es lange
Zeit als unvollständig; in neuester Zeit ist man jedoch zu der Überzeugung gelangt,
dass Bruckner die notengetreue Reprise nur nicht eigens niederschreiben wollte.
Literatur
- Max Auer, Bruckners 112. Psalm uraufgeführt. Festkonzert in Vöcklabruck, in: [Linzer] Tages-Post 19.3.1926, S. 8
- Max Auer, Anton Bruckner als Kirchenmusiker (Deutsche Musikbücherei 54). Regensburg 1927, S. 201–214
-
Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 3/1, S. 190–203
- Paul Hawkshaw, Vorwort, in: Revisionsbericht zu NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet) XX/1–6 (2002)
Psalm 114 (WAB 36) „Alleluja! Liebe erfüllt mich“
Vertonung von Psalm 114 (116) für fünfstimmigen gemischten Chor (S, 2 A, T, B) und 3 Pos. in G-Dur
EZ: |
vor dem 30.7.1852 in St.
Florian
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W: |
Ignaz
Assmayr („[…] P. T. Sr Hochwohlgeborn dem hochverehrtesten Herrn Herrn
Ignaz v. Assmair k. k. Hof-Kapellmeister als schwachen Versuch von A Bruckner
Stiftsorganist v. St. Florian“)
|
UA: |
1852 in St. Florian (in einer Probe); 1.4.1906 in Linz (August Göllerich)
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Aut.: |
Privatbesitz (Reinschrift, mit dem Widmungsbrief an Assmayr vom
30.7.1852); Stift St. Florian, Bruckner‑Archiv (19/4b,
Arbeitspartitur; 19/4a, autografer Text)
|
ED: |
Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 2/2, S. 151–177
(1928; Faksimile)
|
NGA: |
Band XX/1 (Paul
Hawkshaw, 1997) und Revisionsbericht zu XX/1–6 (2002)
|
Mit der Widmung war diese Psalmvertonung als Namenstagsgeschenk (31.7.) für
Hofkapellmeister Assmayr gedacht, dem Bruckner schon zu Jahresbeginn 1852 sein Requiem in d‑Moll (WAB 39) unterbreitet hatte. In seinem (erst
1957 entdeckten) Begleitschreiben vom 30.7.1852 berichtet Bruckner über seine ihm
sehr unbehagliche Situation im Stift und seinen Wunsch nach einem größeren
Aufgabenkreis.
Bruckner zeigt in dieser Komposition gleichsam alle ihm schon zur Verfügung stehenden
Stilmittel vor: Den alten Kirchenstil (im viermaligen „Alleluja“ des Beginns), an der
Wiener Klassik orientierte weiche Melodik
(„Liebe erfüllt mich“), expressive Intervallsprünge, Seufzer-Melodik und den für den
Themenkreis „Tod“ traditionellen Einsatz der Posaunen („Es umgaben mich die Schmerzen
des Todes“), imitatorische Einsätze („Barmherzig ist der Herr und gerecht“) sowie,
als Krönung, eine feurige Doppelfuge („Ich will gefallen dem Herrn“), die in einen
Orgelpunkt und ein machtvolles Unisono aller Singstimmen („... im Lande der
Lebendigen“) einmündet.
Wie Hofkapellmeister Assmayr dieser Psalm des St. Florianer Organisten gefiel, ist
nicht bekannt; einen kleinen Erfolg, den Bruckner in seinem Begleitschreiben mit
verhaltenem Stolz auch anführt, hatte er aber schon für sich buchen können. Als
Postskriptum in Bruckners Brief an Assmayr heißt es: „NB. den Psalm habe ich im
Stifts-Musikzimmer probiren lassen; es haben selbst Wiener mitgewirkt, die sogar
Kunstkenner sind, u. er wurde mit vielem Beifalle aufgenommen.“ (Briefe I,
520730).
Literatur
- August Göllerich, Anton Bruckners 114. Psalm, in: Die MusikDie Musik. Stuttgart–Berlin–Leipzig 1901/02–1914/15 und 1922/23–1942/43. Zusatz ab 1934: Amtliches Organ der NS-Kulturgemeinde; Zusatz ab 1937/38: Organ des Amtes für Kunstpflege beim Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung und Schulung der NSDAP; Zusatz ab 1939: Organ der Hauptstelle Musik beim Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung und Schulung der NSDAP; Zusatz ab 1940/41: Organ der Hauptstelle Musik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP 6 (1906/07) H. 1,
S. 36–45
-
Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 2/1, S. 136–142
- Wilfried Scheib, Der schwache Versuch Anton Bruckners, in: Magnum 15 (Dezember 1957), S. 47–50
-
Briefe IAndrea Harrandt/Otto Schneider (Hg.), Briefe von, an und über Anton Bruckner. Bd. I. 1852–1886 (NGA XXIV/1). 2., rev. und verbesserte Aufl. Wien 2009
- Paul Hawkshaw, Revisionsbericht zu NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet) XX/1–6
(2002), S. 34
Psalm 146 (WAB 37) „Alleluja! Lobet den Herrn, denn lobsingen ist gut“
Vertonung von Psalm 146 (147) für Soli (SATB), zwei vierstimmige gemischte Chöre und großes Orchester (Fl., 2 Ob., 2
Klar., 2 Fg., 4 Hr., 2 Trp., 4 Pos., Pk., Str.) in A-Dur
Sätze: |
„Langsam“; Rezitativ I–III; Chor: „Schnell“; Arioso mit Chor:
„Nicht zu langsam“; Arioso: „Nicht schnell“; Schlusschor: „Etwas schnell“;
Fuge: „Nicht schnell“
|
EZ: |
begonnen in St. Florian?,
vollendet spätestens 1858 in Linz
|
UA: |
?; nachweisbare erste Aufführungen: 28.11.1971 in Nürnberg (Ursula Wendt; Ingeborg Ruß;
Frieder Stricker; Siegmund Nimsgern; Hans-Sachs-Chor
Nürnberg; Lehrergesangverein Nürnberg; Nürnberger Symphoniker; Wolfgang Riedelbauch [* 1939]);
10.11.1991 in Wien, Musikverein (Gunnel
Bohmann; Claudia Eder; Zachos Terzakis; Peter Mikulas; WU
Chor Wien; Kammerchor der Musikhochschule Wien;
Tonkünstler-Orchester Niederösterreich; Heinz Wallberg)
|
Aut.: |
ÖNB‑MS (Mus.Hs.40500, unvollständige Arbeitspartitur, vermutlich aus dem
Besitz von Karl Aigner; Mus.Hs.6011, As. mit
autografen Eintragungen); Stadtarchiv Wels
(Inv.Nr.2693,
Skizze)
|
NGA: |
Band XX/4 (Paul
Hawkshaw, 1996) und Revisionsbericht zu XX/1–6 (2002)
|
„Wenige Kompositionen Bruckners werfen solche Datierungsprobleme auf wie der
Psalm 146. Wann er geschrieben wurde, für wen und warum, alle diese Fragen sind
unbeantwortet. In der Korrespondenz des Komponisten gibt es keinerlei Hinweise, und
es ist auch kein Dokument bekannt, das eine Aufführung zu Lebzeiten Bruckners belegen
würde. Der Psalm wurde nie zur Gänze veröffentlicht.“, so Hawkshaw im Vorwort der
1996 erschienenen Ausgabe im Rahmen der Neuen Gesamtausgabe (NGA XX/4). Bereits 1902
datierte Max Graf das Werk mit dem Jahr 1860; diese Annahme teilten auch August Göllerich und Max Auer, wobei sie sich auf eine Aussage Rudolf Weinwurms stützten, der angegeben hatte,
Bruckner habe im Jahr 1860 an einem Psalm gearbeitet. (Weinwurm hatte Bruckner vom
23.8.–10.9.1860 in Linz besucht und bei ihm im Mesnerhaus gewohnt.) Göllerich und
Auer vermuteten jedoch den Beginn der Arbeiten in St. Florian als früher geschehen,
und bezogen sich dabei auf eine unvollständige Skizze im Archiv von St. Florian sowie
eine Reinschrift in der Gesellschaft der
Musikfreunde in Wien. Beide Handschriften sind jedoch nicht zu
identifizieren; somit ist fraglich, ob sie jemals existiert haben.
Die Komposition könnte, nach dem Handschriftenbefund der vorhandenen Quellen
geschlossen (so etwa dem für die St. Florianer Zeit charakteristischen kurzen
Violinschlüssel), früher als 1860, vermutlich spätestens 1858 entstanden sein. Auch
die kantatenartige Anlage (Kantate) verweist
noch auf eine frühe Entstehung; allerdings macht sich vermutlich schon die Schulung
durch Simon Sechter in den großen
Dimensionen und der ausgedehnten Schlussfuge bemerkbar.
Die Anlage des nach den beiden großen Messzyklen (Requiem in d‑Moll [WAB 39], Missa solemnis)
umfangreichsten Werkes ist kantatenartig mit Rezitativen, Ariosi und Chören; Einflüsse
Joseph Haydns, Franz Schuberts, besonders aber Felix Mendelssohn
Bartholdys sind zwar immer noch nicht zu überhören, dennoch ist das Werk ein
Meilenstein zu künstlerischer Eigenständigkeit. Besonders hervorzuheben sind hier das
nicht in strahlendem f, sondern verinnerlicht „recht piano
immerfort“ (ÖNB‑MS, Mus.Hs.6011, Mus.Hs.19701) zu singende „Alleluja! Lobet den Herrn“ (Eingangschor mit
solistisch geführtem Horn), der achtstimmige Doppelchor „Groß ist unser Herr“, der
schon den späteren Bruckner‘schen Personalstil ahnen lässt, und die (das schon im
Unterricht bei Sechter erworbene Können demonstrierende) Fuge des letzten Teiles, in dem auch
offenbar vom Händel‘schen „Messias“-Alleluja, das Bruckner als Improvisator an der
Orgel bis ins hohe Alter gerne verwendete,
inspirierte Passagen sowie die gekonnte Klangsteigerung auffallen.
Literatur
-
Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 3/1, S. 71–89
- Paul Hawkshaw, Vorwort, in: NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet) XX/4
(1996)
-
Dom- und StadtpfarrorganistElisabeth Maier, Anton Bruckner als Linzer Dom- und Stadtpfarrorganist. Aspekte einer Berufung. Mit einem Beitrag von Ikarus Kaiser (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 15). Wien 2009, Textteil,
S. 73
-
ABCD
Psalm 150 (WAB 38) „Halleluja! Lobet den Herrn in seinem
Heiligtum“
Vertonung von Psalm 150 für Sopran-Solo, vierstimmigen gemischten Chor und großes Orchester (2 Fl., 2 Ob., 2
Klar., 2 Fg., 4 Hr., 3 Trp., 3 Pos., Kbtb., Pk., Str.) in C-Dur, „Mehr langsam!
Feierlich, kräftig“
Richard Heuberger gab am
23.12.1891 bei Bruckner, der damals gerade am 1. Satz seiner Neunten Symphonie
arbeitete, eine Hymne oder Kantate für das
Eröffnungskonzert der für 1892 in Wien geplanten
Internationalen Ausstellung für Musik- und
Theaterwesen
in Auftrag, nachdem Johannes Brahms diesen Kompositionsauftrag abgelehnt hatte (was Bruckner
jedoch nicht wusste). Bruckner wählte aus den ihm angebotenen zwei Texten den 150.
Psalm in der Übersetzung Martin Luthers „wegen seiner besonderen Feierlichkeit“
(Göll.-A. 4/3, S. 231).
Er wurde zur Ausstellungseröffnung (7.5.1892) mit der Komposition jedoch nicht
rechtzeitig fertig, und die nächste vorgesehene Aufführungsgelegenheit, das in Wien
geplante Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen
Musikvereins (ADMV), wurde abgesagt. Der schon für diesen Termin
vorgesehene Dirigent Gericke übernahm den Psalm 150
schließlich in das Gesellschaftskonzert vom 13.11.1892. Der erwartete Erfolg blieb
nicht zuletzt deswegen aus, weil das Werk im Programm ungünstig platziert war (nach
einer Schubert-Ouvertüre, vor dem
Es‑Dur-Klavierkonzert von Franz Liszt, Wanderers Sturmlied von Richard Strauss und Felix Mendelssohn
Bartholdys
Loreley) und die Proben in Anbetracht des schwierigen Werkes
wohl nicht genügt hatten.
Der Psalm, den Bruckner als seine „allerbeste Fest Cantate“ (Briefe II, 930701)
bezeichnete, unterstreicht diese Festlichkeit durch die Tonart C‑Dur, die große
Orchesterbesetzung, die ausgedehnte Schlussfuge, die rund ein Drittel des Werkes
ausmacht, und den ekstatischen Gestus. Es wäre jedoch verfehlt, darin lediglich einen
„erhabenen, geradezu bombastischen Ton […], der in die Sphäre
spätgründerzeitlicher Wiener Selbstdarstellung und politisch gefärbter
Männerchor-Bewegung führt, wie sie ein Jahr später auch den sozio-ideologischen
Hintergrund für Helgoland […] abgab“ (Wald-Fuhrmann,
S. 281) zu sehen. Bruckner trägt vielmehr dem schon im Psalmtext selbst
begründeten Charakter der besonderen Preisung Gottes im „Kleinen Hallel“ Rechnung.
(Das „Kleine Hallel“ umfasst die Psalmen 146–150 und bildet den thematisch
einheitlichen Abschluss des Psalters.) Zudem scheint ihm der Psalmtext, in dem
gleichsam ein ganzes Orchester (Psalterium, Harfen, Pauken, Saiten- und
Blasinstrumente sowie Cymbeln) und nicht zuletzt der Mensch mit Gesang und Tanz, ja
die ganze Schöpfung, die „Odem hat“, zum Lob Gottes aufgerufen wird, sehr
entgegengekommen zu sein.
Bruckner vertonte das Werk abschnittsweise, wobei schlichte a cappella-Sätze als
Gliederungselemente dienen. Auf den gleichsam improvisatorischen Charakter des
fanfarenartigen „Halleluja“-Beginns (T. 1–22) folgt ein Aufruf zum Lob, der
durch dynamische Kontraste und Steigerungen vom pp bis zum ff sowie den Einsatz von Solo-Sopran und Solo-Violine
(T. 125ff.) gekennzeichnet ist und die ganze Bandbreite des Ausdrucks von
verhaltener Anbetung bis zum strahlenden Jubel durchmisst. Den Höhepunkt und Schluss
bildet eine Fuge zu den Worten „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!“
(T. 165–229), deren Thema große Ähnlichkeit zum Fugenthema im Finale der Fünften Symphonie
aufweist; in den letzten Takten (230–247) greift Bruckner auf das fanfarenartige
„Halleluja“ des Anfangs zurück. Man geht nicht fehl, wenn man diese Psalmvertonung
Bruckners stilistisch in die Nähe des freilich weitaus jüngeren Te Deum
rückt und ihm einen gleichsam orgelhaft-improvisatorischen Charakter (vgl. Max Auer) mit wechselnden Registern (Solo/Tutti,
Chor/Orchester) zuschreibt.
Literatur
-
Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 4/3, S. 230–234
- Max Auer, Anton Bruckner als Kirchenmusiker (Deutsche Musikbücherei 54). Regensburg 1927, S. 87–200
- Franz Grasberger, Vorwort, in: NGAAnton Bruckner. Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft. Wien 1951ff. (Editionsleitung: Leopold Nowak, auch als Neue Gesamtausgabe bezeichnet) XX/6
(1964)
- Winfried Kirsch, Anmerkungen zu einem Spätwerk: Anton Bruckners
150. Psalm, in: Studien zu Werk und
WirkungChristoph-Hellmut Mahling (Hg.), Anton Bruckner. Studien zu Werk und Wirkung. Walter Wiora zum 30. Dezember 1986 (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft 20). Tutzing 1988, S. 81–99
-
Briefe IIAndrea Harrandt/Otto Schneider (Hg.), Briefe von, an und über Anton Bruckner. Bd. II. 1887–1896 (NGA XXIV/2). Wien 2003
- Melanie Wald-Fuhrmann, Geistliche Vokalmusik, in: Bruckner-Handbuch 2010Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Bruckner-Handbuch. Stuttgart–Weimar 2010, S. 224–289
ELISABETH MAIER
Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 12.6.2017