Psalmen (WAB 34–38)

(griech. „psalmos“ = „Saitenspiel“, „Gesang“) werden die spätestens im 2. Jahrhundert v. Chr. zum Psalter vereinigten, zwischen 1000 und 165 v. Chr. entstandenen 150 religiösen Gesänge Israels genannt. Durch die im 3. Jahrhundert n. Chr. erfolgte Übernahme der Psalmen in das christliche Stundengebet formten sie und ihre starke Bildsprache nicht nur das religiöse Leben, sondern auch die bildnerische, literarische und musikalische Entwicklung des Abendlandes auf das Nachhaltigste. Haben die Psalmen im katholischen Bereich v. a. in den festlichen Vesper-Kompositionen ihren Platz, finden sich Vertonungen einzelner Psalmen in deutscher Sprache besonders im protestantischen Raum. Bruckners Psalmen sind solche Einzelvertonungen; als Textvorlage (mit Ausnahme des Psalmes 150) benützte er die päpstlich approbierte deutsche Vulgata-Übersetzung von Franz Allioli (1793–1873; Bibelkenntnis Bruckners).

Die Zählung der Psalmen differiert in der lateinisch-griechischen und der (heute üblichen) hebräischen Tradition. Bruckner richtete sich nach der zu seiner Zeit üblichen lateinischen Zählung, kannte jedoch auch die hebräische, wie seine mit „Psalm 114 (116)“ überschriebene Textabschrift zu Psalm 114 zeigt. Er vertonte aus dem „Buch der Psalmen“ insgesamt fünf Gesänge für verschiedenste Besetzungen. Von der Thematik her wählte er überwiegend solche, die Lobpreis und Jubel ausdrücken: Die Psalmen 112 und 114 (heute 113 bzw. 116) stammen aus dem sogenannten Hallel, einer Psalmengruppe, die zu bestimmten Festen – u. a. dem Pessach – gesungen wurde. Auch die Psalmen 146 (heute 147) und 150 sind Hymnen, eine in der religiösen Dichtung Israels besonders häufige literarische Gattung. Thematisch sind die Psalmen 112 (113), 114 (116) und 146 (147) besonders von der Güte Gottes gegenüber den Armen und Erniedrigten und von deren jubelndem Dank geprägt, während Psalm 150 gleichsam ein Kompendium alttestamentlichen Musizierens darstellt: Zum Lob Gottes werden alle wichtigen Musikinstrumente des Tempelorchesters aufgerufen – Hörner und Harfe, Zither und Zimbeln, Pauken, Flöten und Saitenspiel sollen Gott preisen, und der Mensch tanzt dazu wie David vor der Bundeslade. In den 40 Jahren zwischen seiner ersten (Psalm 22) und letzten (Psalm 150) Psalmvertonung durchschritt Bruckner die ganze Bandbreite seiner stilistischen Entwicklung.

Literatur

Psalm 22 (WAB 34) „Der Herr regieret mich“

Vertonung von Psalm 22 (23) für Soli (SATB), vierstimmiger gemischter Chor und Klavier in Es-Dur, „Nicht zu langsam“

EZ: um 1852 in St. Florian
UA: 1852 im Rahmen der Konzerte im Stift?, gesichert: 11.10.1921 in St. Florian (Franz Xaver Müller)
Aut.: Stift St. Florian, Bruckner-Archiv (19/5a)
ED: Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 2/2, S. 119–130 (1928; Faksimile der autografen Partitur)
NGA: Band XX/2 (Paul Hawkshaw, 1997) und Revisionsbericht zu XX/1–6 (2002)

In dieser Komposition, die während Bruckners Zeit als provisorischer Stiftsorganist in St. Florian entstanden ist, und die, wie vermutet wird (s. Wald-Fuhrmann), während der regelmäßig stattfindenden Konzerte im Stift uraufgeführt wurde, sind sowohl die Ergebnisse der Studienzeit bei Leopold von Zenetti (besonders die kontrapunktische Arbeit) als auch Einflüsse und Vorbilder der Frühromantik (Franz Schubert, Felix Mendelssohn Bartholdy) festzustellen.

Der von pulsierender Klavierbegleitung (12/8-Takt) gestützte 1. Teil („Der Herr regieret mich und nichts wird mir mangeln“) ist zu Beginn homophon gehalten, doch verdichtet sich der Satz allmählich zur Steigerung der Eindringlichkeit (imitatorische Einsätze bei den Textstellen „So will ich nicht Übles fürchten“, „Du hast bereitet einen Tisch“, „wie herrlich ist er“, „Und deine Barmherzigkeit“), bis er ab T. 43 in eine Fuge einmündet („Daß ich wohne im Hause des Herrn auf lange Zeit“), die ihrerseits in einem abschließenden, von Bruckner mit „Choral“ überschriebenen homophonen Schlussteil gipfelt, in dem die Klavierbegleitung schweigt und der in langen, ruhigen Notenwerten gehaltene Chorsatz das „Wohnen auf lange Zeit“ versinnbildlicht.

Neben der Uraufführung, die wahrscheinlich im Rahmen eines Stiftskonzertes ca. 1852 stattfand, sowie der ersten gesicherten Aufführung unter der Leitung von Franz Xaver Müller am 11.10.1921 (ebenfalls in St. Florian), folgte bereits am 18.6.1932 im Rahmen eines Haydn-Beethoven-Bruckner-Festkonzertes die Aufführung einer Bearbeitung des Psalms für großes Orchester von Leopold Daxsperger im Festsaal des Technischen Museums in Wien.

Literatur

Psalm 112 (WAB 35) „Alleluja! Lobet den Herrn, ihr Diener“

Vertonung von Psalm 112 (113) für zwei vierstimmige gemischte Chöre und großes Orchester (2 Fl., 2 Ob., 2 Klar., 2 Fg., 2 Hr., 2 Trp., 3 Pos., Pk., Str.) in B-Dur, „Maestoso“

EZ: 1. Hälfte Juni 1863 bis 5.7.1863 in Linz
UA: ?; vielleicht erst am 14.3.1926 in Vöcklabruck (Liedertafel und Kirchenmusikverein Vöcklabruck; Max Auer)
Aut.: ÖNB-MS (Mus.Hs.3156, unvollständige autografe Partitur mit Eintragungen Otto Kitzlers?)
ED: Universal Edition, Wien 1926 (Josef Venantius von Wöss)
NGA: Band XX/5 (Paul Hawkshaw, 1996) und Revisionsbericht zu XX/1–6 (2002)

Die autografe Partitur fand sich im Nachlass Bruckners und gelangte 1927 in die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB). Das Werk war das letzte, das Bruckner als Übung für Kitzler schrieb. „Das Autograph bricht am Ende der Rückseite des letzten fol. ab und endet im 5. Takt der Reprise des Eingangschors, die an die Fuge anschließt. Ob die Partitur auf weiteren Blättern fortgesetzt wurde oder ob der Komponist nicht mehr weiterschrieb, da er keinen Platz mehr hatte und sich daher auf eine angedeutete Reprise des Eingangschors beschränkte, kann nicht festgestellt werden.“ (Hawkshaw, S. 155). In seinem Vorwort zum Erstdruck erwähnt Wöss eine Kopie der Partitur, in die August Göllerich Anmerkungen bezüglich der Wiederholung des ersten Teiles eingetragen haben soll.

Der Psalm nimmt als Übergang von den Werken der Früh- zu jenen der Reifezeit auch deshalb eine Sonderstellung ein, weil Bruckner, als er vor seiner Übersiedlung in die letzte Wohnung im Belvedere rigoros „über seine Jugendwerke strenges Gericht hielt, indem er vieles den Flammen übergab“ (Göll.-A. 3/1, S. 203), u. a. die Urschrift dieses Werkes aufbewahrte. Allerdings hatte Bruckner nach dem Sommer 1863 nie mehr an dem Psalm gearbeitet; auch eine Aufführung zu seinen Lebzeiten ist nicht belegt.

Die Komposition beginnt doppelchörig „Maestoso“, wobei die beiden Chöre fallweise mit kleinen imitatorischen Einsätzen übereinander geschichtet werden. Ab T. 71–113 folgt textbedingt ein „dialogisierender“, auch in der Orchesterbegleitung „durchsichtigerer“ Mittelteil („Wer ist wie der Herr, unser Gott“), Teil 3, erneut ein „Maestoso“, greift den Anfangsteil (verkürzt und variiert) auf, dann folgt (ab T. 143) eine „Alleluja“-Fuge (bis T. 202). Den Schluss bildet eine Wiederholung des Eingangschores (bis T. 71). So ergibt sich die Form A‑B‑A‘‑C‑A.

Besonders hervorzuheben sind die subtile Tonmalerei (z. B. des Sonnenauf- und ‑untergangs), charakteristische Steigerungen, die Vorwegnahme mancher Themen aus späteren Werken (im Mittelteil: Benedictus der Messe in d‑Moll; bei „Hoch über alle Völker“: Andante der Zweiten Symphonie), v. a. aber die stilistisch einheitliche, geschlossene Gesamtanlage des Werkes. Da die Urschrift des Werkes nach dem 5. Takt der Reprise abbricht, galt es lange Zeit als unvollständig; in neuester Zeit ist man jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass Bruckner die notengetreue Reprise nur nicht eigens niederschreiben wollte.

Literatur

Psalm 114 (WAB 36) „Alleluja! Liebe erfüllt mich“

Vertonung von Psalm 114 (116) für fünfstimmigen gemischten Chor (S, 2 A, T, B) und 3 Pos. in G-Dur

EZ: vor dem 30.7.1852 in St. Florian
W: Ignaz Assmayr („[…] P. T. Sr Hochwohlgeborn dem hochverehrtesten Herrn Herrn Ignaz v. Assmair k. k. Hof-Kapellmeister als schwachen Versuch von A Bruckner Stiftsorganist v. St. Florian“)
UA: 1852 in St. Florian (in einer Probe); 1.4.1906 in Linz (August Göllerich)
Aut.: Privatbesitz (Reinschrift, mit dem Widmungsbrief an Assmayr vom 30.7.1852); Stift St. Florian, Bruckner‑Archiv (19/4b, Arbeitspartitur; 19/4a, autografer Text)
ED: Göll.-A.August Göllerich/Max Auer, Anton Bruckner. Ein Lebens- und Schaffensbild (Deutsche Musikbücherei 36–39). 4 Bde. (in 9 Teilbänden [1, 2/1–2, 3/1–2, 4/1–4]). Regensburg 1922–1937, unveränd. Nachdruck 1974 2/2, S. 151–177 (1928; Faksimile)
NGA: Band XX/1 (Paul Hawkshaw, 1997) und Revisionsbericht zu XX/1–6 (2002)

Mit der Widmung war diese Psalmvertonung als Namenstagsgeschenk (31.7.) für Hofkapellmeister Assmayr gedacht, dem Bruckner schon zu Jahresbeginn 1852 sein Requiem in d‑Moll (WAB 39) unterbreitet hatte. In seinem (erst 1957 entdeckten) Begleitschreiben vom 30.7.1852 berichtet Bruckner über seine ihm sehr unbehagliche Situation im Stift und seinen Wunsch nach einem größeren Aufgabenkreis.

Bruckner zeigt in dieser Komposition gleichsam alle ihm schon zur Verfügung stehenden Stilmittel vor: Den alten Kirchenstil (im viermaligen „Alleluja“ des Beginns), an der Wiener Klassik orientierte weiche Melodik („Liebe erfüllt mich“), expressive Intervallsprünge, Seufzer-Melodik und den für den Themenkreis „Tod“ traditionellen Einsatz der Posaunen („Es umgaben mich die Schmerzen des Todes“), imitatorische Einsätze („Barmherzig ist der Herr und gerecht“) sowie, als Krönung, eine feurige Doppelfuge („Ich will gefallen dem Herrn“), die in einen Orgelpunkt und ein machtvolles Unisono aller Singstimmen („... im Lande der Lebendigen“) einmündet.

Wie Hofkapellmeister Assmayr dieser Psalm des St. Florianer Organisten gefiel, ist nicht bekannt; einen kleinen Erfolg, den Bruckner in seinem Begleitschreiben mit verhaltenem Stolz auch anführt, hatte er aber schon für sich buchen können. Als Postskriptum in Bruckners Brief an Assmayr heißt es: „NB. den Psalm habe ich im Stifts-Musikzimmer probiren lassen; es haben selbst Wiener mitgewirkt, die sogar Kunstkenner sind, u. er wurde mit vielem Beifalle aufgenommen.“ (Briefe I, 520730).

Literatur

Psalm 146 (WAB 37) „Alleluja! Lobet den Herrn, denn lobsingen ist gut“

Vertonung von Psalm 146 (147) für Soli (SATB), zwei vierstimmige gemischte Chöre und großes Orchester (Fl., 2 Ob., 2 Klar., 2 Fg., 4 Hr., 2 Trp., 4 Pos., Pk., Str.) in A-Dur

Sätze: „Langsam“; Rezitativ I–III; Chor: „Schnell“; Arioso mit Chor: „Nicht zu langsam“; Arioso: „Nicht schnell“; Schlusschor: „Etwas schnell“; Fuge: „Nicht schnell“
EZ: begonnen in St. Florian?, vollendet spätestens 1858 in Linz
UA: ?; nachweisbare erste Aufführungen: 28.11.1971 in Nürnberg (Ursula Wendt; Ingeborg Ruß; Frieder Stricker; Siegmund Nimsgern; Hans-Sachs-Chor Nürnberg; Lehrergesangverein Nürnberg; Nürnberger Symphoniker; Wolfgang Riedelbauch [* 1939]); 10.11.1991 in Wien, Musikverein (Gunnel Bohmann; Claudia Eder; Zachos Terzakis; Peter Mikulas; WU Chor Wien; Kammerchor der Musikhochschule Wien; Tonkünstler-Orchester Niederösterreich; Heinz Wallberg)
Aut.: ÖNB‑MS (Mus.Hs.40500, unvollständige Arbeitspartitur, vermutlich aus dem Besitz von Karl Aigner; Mus.Hs.6011, As. mit autografen Eintragungen); Stadtarchiv Wels (Inv.Nr.2693, Skizze)
NGA: Band XX/4 (Paul Hawkshaw, 1996) und Revisionsbericht zu XX/1–6 (2002)

„Wenige Kompositionen Bruckners werfen solche Datierungsprobleme auf wie der Psalm 146. Wann er geschrieben wurde, für wen und warum, alle diese Fragen sind unbeantwortet. In der Korrespondenz des Komponisten gibt es keinerlei Hinweise, und es ist auch kein Dokument bekannt, das eine Aufführung zu Lebzeiten Bruckners belegen würde. Der Psalm wurde nie zur Gänze veröffentlicht.“, so Hawkshaw im Vorwort der 1996 erschienenen Ausgabe im Rahmen der Neuen Gesamtausgabe (NGA XX/4). Bereits 1902 datierte Max Graf das Werk mit dem Jahr 1860; diese Annahme teilten auch August Göllerich und Max Auer, wobei sie sich auf eine Aussage Rudolf Weinwurms stützten, der angegeben hatte, Bruckner habe im Jahr 1860 an einem Psalm gearbeitet. (Weinwurm hatte Bruckner vom 23.8.–10.9.1860 in Linz besucht und bei ihm im Mesnerhaus gewohnt.) Göllerich und Auer vermuteten jedoch den Beginn der Arbeiten in St. Florian als früher geschehen, und bezogen sich dabei auf eine unvollständige Skizze im Archiv von St. Florian sowie eine Reinschrift in der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Beide Handschriften sind jedoch nicht zu identifizieren; somit ist fraglich, ob sie jemals existiert haben.

Die Komposition könnte, nach dem Handschriftenbefund der vorhandenen Quellen geschlossen (so etwa dem für die St. Florianer Zeit charakteristischen kurzen Violinschlüssel), früher als 1860, vermutlich spätestens 1858 entstanden sein. Auch die kantatenartige Anlage (Kantate) verweist noch auf eine frühe Entstehung; allerdings macht sich vermutlich schon die Schulung durch Simon Sechter in den großen Dimensionen und der ausgedehnten Schlussfuge bemerkbar.

Die Anlage des nach den beiden großen Messzyklen (Requiem in d‑Moll [WAB 39], Missa solemnis) umfangreichsten Werkes ist kantatenartig mit Rezitativen, Ariosi und Chören; Einflüsse Joseph Haydns, Franz Schuberts, besonders aber Felix Mendelssohn Bartholdys sind zwar immer noch nicht zu überhören, dennoch ist das Werk ein Meilenstein zu künstlerischer Eigenständigkeit. Besonders hervorzuheben sind hier das nicht in strahlendem f, sondern verinnerlicht „recht piano immerfort“ (ÖNB‑MS, Mus.Hs.6011, Mus.Hs.19701) zu singende „Alleluja! Lobet den Herrn“ (Eingangschor mit solistisch geführtem Horn), der achtstimmige Doppelchor „Groß ist unser Herr“, der schon den späteren Bruckner‘schen Personalstil ahnen lässt, und die (das schon im Unterricht bei Sechter erworbene Können demonstrierende) Fuge des letzten Teiles, in dem auch offenbar vom Händel‘schen „Messias“-Alleluja, das Bruckner als Improvisator an der Orgel bis ins hohe Alter gerne verwendete, inspirierte Passagen sowie die gekonnte Klangsteigerung auffallen.

Literatur

Psalm 150 (WAB 38) „Halleluja! Lobet den Herrn in seinem Heiligtum“

Vertonung von Psalm 150 für Sopran-Solo, vierstimmigen gemischten Chor und großes Orchester (2 Fl., 2 Ob., 2 Klar., 2 Fg., 4 Hr., 3 Trp., 3 Pos., Kbtb., Pk., Str.) in C-Dur, „Mehr langsam! Feierlich, kräftig“

EZ: vollendet 29.6.1892, revidiert 7. und 11.7.1892
W: Max von Oberleithner („Sr. Hochwohlgeboren Herrn Dr. MAX Edlem von OBERLEITHNER in herzlichster Verehrung“)
UA: 13.11.1892 in Wien, Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (Gesellschaftskonzert; Henriette Standthartner; Wiener Singverein; Wilhelm Gericke)
Aut.: ÖNB‑MS (Mus.Hs.19484; Mus.Hs.34936, Albumblatt [4 Takte] mit Fotografie Bruckners [IKO 22c] und Widmung an Wilhelm Hartel, „Sr Hochwolgeboren Herrn Willi, Ritter von Hartel“)
ED: Doblinger, Wien 1893; Klavierauszug von Cyrill Hynais, mit Widmung an Oberleithner
NGA: Band XX/6 (Franz Grasberger, 1964) und Revisionsbericht zu XX/1–6 (Paul Hawkshaw, 2002)

Richard Heuberger gab am 23.12.1891 bei Bruckner, der damals gerade am 1. Satz seiner Neunten Symphonie arbeitete, eine Hymne oder Kantate für das Eröffnungskonzert der für 1892 in Wien geplanten Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen in Auftrag, nachdem Johannes Brahms diesen Kompositionsauftrag abgelehnt hatte (was Bruckner jedoch nicht wusste). Bruckner wählte aus den ihm angebotenen zwei Texten den 150. Psalm in der Übersetzung Martin Luthers „wegen seiner besonderen Feierlichkeit“ (Göll.-A. 4/3, S. 231).

Er wurde zur Ausstellungseröffnung (7.5.1892) mit der Komposition jedoch nicht rechtzeitig fertig, und die nächste vorgesehene Aufführungsgelegenheit, das in Wien geplante Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins (ADMV), wurde abgesagt. Der schon für diesen Termin vorgesehene Dirigent Gericke übernahm den Psalm 150 schließlich in das Gesellschaftskonzert vom 13.11.1892. Der erwartete Erfolg blieb nicht zuletzt deswegen aus, weil das Werk im Programm ungünstig platziert war (nach einer Schubert-Ouvertüre, vor dem Es‑Dur-Klavierkonzert von Franz Liszt, Wanderers Sturmlied von Richard Strauss und Felix Mendelssohn Bartholdys Loreley) und die Proben in Anbetracht des schwierigen Werkes wohl nicht genügt hatten.

Der Psalm, den Bruckner als seine „allerbeste Fest Cantate“ (Briefe II, 930701) bezeichnete, unterstreicht diese Festlichkeit durch die Tonart C‑Dur, die große Orchesterbesetzung, die ausgedehnte Schlussfuge, die rund ein Drittel des Werkes ausmacht, und den ekstatischen Gestus. Es wäre jedoch verfehlt, darin lediglich einen „erhabenen, geradezu bombastischen Ton […], der in die Sphäre spätgründerzeitlicher Wiener Selbstdarstellung und politisch gefärbter Männerchor-Bewegung führt, wie sie ein Jahr später auch den sozio-ideologischen Hintergrund für Helgoland […] abgab“ (Wald-Fuhrmann, S. 281) zu sehen. Bruckner trägt vielmehr dem schon im Psalmtext selbst begründeten Charakter der besonderen Preisung Gottes im „Kleinen Hallel“ Rechnung. (Das „Kleine Hallel“ umfasst die Psalmen 146–150 und bildet den thematisch einheitlichen Abschluss des Psalters.) Zudem scheint ihm der Psalmtext, in dem gleichsam ein ganzes Orchester (Psalterium, Harfen, Pauken, Saiten- und Blasinstrumente sowie Cymbeln) und nicht zuletzt der Mensch mit Gesang und Tanz, ja die ganze Schöpfung, die „Odem hat“, zum Lob Gottes aufgerufen wird, sehr entgegengekommen zu sein.

Bruckner vertonte das Werk abschnittsweise, wobei schlichte a cappella-Sätze als Gliederungselemente dienen. Auf den gleichsam improvisatorischen Charakter des fanfarenartigen „Halleluja“-Beginns (T. 1–22) folgt ein Aufruf zum Lob, der durch dynamische Kontraste und Steigerungen vom pp bis zum ff sowie den Einsatz von Solo-Sopran und Solo-Violine (T. 125ff.) gekennzeichnet ist und die ganze Bandbreite des Ausdrucks von verhaltener Anbetung bis zum strahlenden Jubel durchmisst. Den Höhepunkt und Schluss bildet eine Fuge zu den Worten „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!“ (T. 165–229), deren Thema große Ähnlichkeit zum Fugenthema im Finale der Fünften Symphonie aufweist; in den letzten Takten (230–247) greift Bruckner auf das fanfarenartige „Halleluja“ des Anfangs zurück. Man geht nicht fehl, wenn man diese Psalmvertonung Bruckners stilistisch in die Nähe des freilich weitaus jüngeren Te Deum rückt und ihm einen gleichsam orgelhaft-improvisatorischen Charakter (vgl. Max Auer) mit wechselnden Registern (Solo/Tutti, Chor/Orchester) zuschreibt.

Literatur

ELISABETH MAIER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 12.6.2017

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Psalm 22 (WAB 34) „Der Herr regieret mich“

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Psalm 112 (WAB 35) „Alleluja! Lobet den Herrn, ihr Diener“

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Psalm 114 (WAB 36) „Alleluja! Liebe erfüllt mich“

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Psalm 146 (WAB 37) „Alleluja! Lobet den Herrn, denn lobsingen ist gut“

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Psalm 150 (WAB 38) „Halleluja! Lobet den Herrn in seinem Heiligtum“

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