Dirigent, Bruckner als

In der Bruckner-Literatur (Biografien, Erinnerungsliteratur, Literatur) werden Bruckners Tätigkeiten als Dirigent selten differenziert behandelt. Es herrscht die verbreitete Meinung, sein Dirigieren sei nur wenig professionell gewesen – ein Klischee, das vor allem auf Anekdoten und frühe Bruckner-Biografen zurückgeht. So führte u. a. Max Auer den Misserfolg der Uraufführung der Dritten Symphonie unter der Leitung Bruckners auch auf dessen unbeholfenes Dirigat zurück. Demgegenüber stehen die Rezensionen dieses Konzerts, die Bruckners Dirigier-Befähigung gar nicht erwähnen (vgl. Wagner, S. 214–217). Bruckners Tätigkeiten als Dirigent sind bislang auch noch nicht Gegenstand einer umfassenderen Darstellung geworden.

Eine eigentliche Ausbildung zum Dirigenten, wie wir sie heute kennen, gab es im 19. Jahrhundert freilich nicht: Dirigenten waren in erster Linie ausgebildete Musiker, die später dirigentische Aufgaben übernahmen und an ihrer zunehmenden Berufserfahrung wuchsen – so auch Bruckner. Die Entwicklung des Berufsbildes vom Konzert-Dirigenten entwickelte sich überhaupt erst in der Zeit, in die Bruckner hineingeboren wurde; so erschien z. B. eines der ersten guten Traktate über das Dirigieren (Ferdinand Simon Gassner, Dirigent und Ripienist für angehende Musikdirigenten, Musiker und Musikfreunde. Karlsruhe 1844) erst, als Bruckner 20 Jahre alt war.

Schon als Knabe soll Bruckner den Wunsch geäußert haben, Kapellmeister werden zu wollen. Auer zufolge hatte seine Mutter diesen Wunsch „als ‚hochfahrend‘ im Keime erstickt“ (Auer, S. 40). Doch schon in seinen frühen Jahren gehörte das Dirigieren mit zu Bruckners musikalischen Tätigkeiten: In seine Zeit als Schul- und Kirchenmusikgehilfe in Kronstorf (1843–1845) fällt nicht nur der Musikunterricht durch den Regens chori von Enns, Leopold von Zenetti, Bruckner leitete hier auch Aufführungen erster eigener Werke mit dem bescheidenen Kronstorfer Kirchenchor, darunter wohl seine Messe für den Gründonnerstag in F‑Dur. In seiner anschließenden Zeit in St. Florian (1845–1855) wurde Bruckner 1849 provisorischer Stiftsorganist (Orgel) und übernahm die Betreuung der Sängerknaben. Am 15.9. des gleichen Jahres erfolgte im Stift die Uraufführung seines Requiem in d‑Moll (WAB 39). Es ist nicht bekannt, ob Bruckner oder der Regens chori des Stifts, Franz Xaver Schäfler (ca. 1796/97–1852) dirigierte. Bruckner übernahm wahrscheinlich zumindest die neuerliche Aufführung des Requiems bei der Trauerfeier für Schäfler am 11.3.1852. Bei Aufführungen eigener Werke in St. Florian wirkte Bruckner als Organist (bzw. Pianist) mit; inwieweit er gelegentlich auch deren Leitung übernahm, ist unbekannt.

In seinen Jahren als Domorganist in Linz (1855–1868) fand Bruckner in dem Dom- und Stadtpfarrkapellmeister Karl Zappe einen starken Vorgesetzten, der zugleich Regens chori sowie Orchesterdirektor und Konzertmeister des Theaters war. Zwischen Bruckner und der Familie Zappe entwickelte sich bald eine herzliche Freundschaft und Bruckner dürfte von Zappe viel über das Dirigieren gelernt haben. Außerdem bildete sich Bruckner nach eigener Auskunft während seiner Studien bei Simon Sechter (1857–1863) in Wien bei den Dirigenten Felix Otto Dessoff und Johann Herbeck weiter. So wurde es möglich, dass Bruckner selbst am 20.11.1864 die Uraufführung seiner Messe in d‑Moll im Alten Dom leitete. Der Erfolg war groß, so dass Bruckner daraufhin am 18.12.1864 auch eine zweite, konzertante Aufführung im Linzer Redoutensaal in Anwesenheit von Erzherzog Joseph dirigierte, die ebenfalls sensationell erfolgreich war. Auch hätte Zappe Bruckner die Leitung dieser Aufführungen sicher nicht überlassen, wenn er von dessen Kompetenz als Dirigent nicht überzeugt gewesen wäre.

Überdies war Bruckner in Linz bereits als Chormeister der renommierten Liedertafel „Frohsinn“ bekannt geworden. Zwar war Bruckner insgesamt nur eineinhalb Jahre lang deren Leiter (vom 7.11.1860 bis September 1861 sowie noch einmal vom 15.1.1868 bis September 1868), doch in der Chronik zum 50‑jährigen Bestehen des Chores (1895) wurde er als „unvergeßlicher Chormeister“ bezeichnet, der bei den Sängerfesten in Krems (29./30.6.1861) und Nürnberg (19.–24.7.1861) „den Solovortrag des Vereines […] mit herrlichem Erfolge“ (Kerschbaum, S. 269) dirigierte. Auch dirigierte er am 12.5.1861 zum Gründungsfest der Liedertafel „Frohsinn“ im Alten Dom eine Festmesse von Antonio Lotti (1667–1740) und die Uraufführung seines Ave Maria (WAB 6). Als Chormeister der Liedertafel „Frohsinn“ zählte die Leitung von Konzerten a cappella oder mit Instrumenten zu verschiedensten Anlässen zu seinen Aufgaben: u. a. bei den jährlichen Gründungsfestkonzerten, Faschingskonzerten, Abend-Unterhaltungen (im Sommer auch im Freien), bei Hochzeiten, Beerdigungen sowie bei Sängerfesten und Sängerfahrten im Umland. Aufgrund seiner Erfolge mit dem Chor gestattete ihm Richard Wagner sogar eine Vorabaufführung des Schlusschors der noch nicht vollendeten Oper Die Meistersinger von Nürnberg beim Gründungsfestkonzert der Liedertafel am 4.4.1868.

Am 9.9.1868 wurde Bruckner als exspektierender Hoforganist in die Wiener Hofmusikkapelle aufgenommen. Nach seiner Übersiedelung nach Wien wirkte er dort nicht nur als Organist, sondern nahm im Gottesdienst auch Tätigkeiten als Dirigent wahr. Hier fanden die Messe in d‑Moll und die Messe in f‑Moll sowie verschiedene Motetten Bruckners als Graduale oder Offertorium ihren Platz.

Zunächst in Linz und später in Wien dirigierte Bruckner wohl 23 seiner Kompositionen insgesamt fast siebzigmal selbst, darunter in den allermeisten Fällen auch deren Uraufführungen. Neben vielen kleineren Gelegenheitswerken hat Bruckner insbesondere seinen Germanenzug, die meisten seiner bedeutenden geistlichen Motetten, das Te Deum (wenn auch mit Klavierbegleitung), die drei großen Messen sowie die Erste, Zweite und Dritte Symphonie selbst uraufgeführt. Er leitete nicht weniger als sechs Aufführungen des Germanenzugs, neun der Messe in d‑Moll, zehn der Messe in f‑Moll und elf des Ave Maria (WAB 6). Insgesamt konnte Franz Scheder bisher ungefähr 63 öffentliche Auftritte Bruckners als Dirigent nachweisen (wenige weitere Fälle sind mangels Dokumenten unsicher), darunter 37 in den Linzer Jahren. Tatsächlich dürften es noch einige mehr gewesen sein. Hier ist noch weitere Forschungsarbeit zu leisten.

Besondere Bewunderung verdient die Unbeirrbarkeit, mit der es Bruckner gelang, einige seiner großen Werke selbst zur Uraufführung zu bringen. Höhepunkte waren dabei sicherlich die Uraufführungen der Messe in d‑Moll (im Alten Dom in Linz am 20.11.1864), der Ersten Symphonie (im großen Linzer Redoutensaal am 9.5.1968), der Messe in e‑Moll (anlässlich der Einweihung der Votivkapelle des Neuen Doms in Linz am 29.9.1869), der Messe in f‑Moll (mit dem Wiener Hofopernchor und den Wiener Philharmonikern in St. Augustin am 16.6.1872), der 1. Fassung der Zweiten Symphonie (zur Schlussfeier der Weltausstellung im Musikvereinssaal am 26.10.1873, wobei bei den Wiener Philharmonikern Arthur Nikisch als Geiger mitwirkte), der 2. Fassung der Zweiten Symphonie (am 20.2.1876) und der umgearbeiteten Dritten Symphonie (am 16.12.1877), letztere jeweils mit den Wiener Philharmonikern im Rahmen der Konzerte der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien im großen Musikvereinssaal.

Überdies muss festgehalten werden, dass Bruckner ungeachtet seiner erlangten Anstellungen während seiner gesamten Karriere achtmal versuchte, bedeutendere Positionen als Dirigent zu erlangen, um sich seinen seit der Jugend gehegten Berufswunsch erfüllen zu können: In seiner Linzer Zeit bewarb er sich gleich zweimal um die Stelle als Direktor beim Dom-Musik-Verein und Mozarteum (1861, 1868). Am 23.10.1863 trug ihm der 1821 gegründete Linzer Musikverein nach dem Rücktritt von Engelbert Lanz die Leitung an; dies hätte ihm die Möglichkeit gegeben, regelmäßig auch als Konzertdirigent zu wirken. Bruckner ging mit allem gebotenem Ernst an die Sache und schrieb am 6.11. einen detaillierten Brief (Briefe I, 631106), in dem er produktive Vorstellungen zur finanziellen und künstlerischen Besserstellung des Vereins entwickelte, doch seine Ansprüche waren dem Verein zu hoch und die Bewerbung scheiterte. Nach seiner Übersiedelung nach Wien bewarb sich Bruckner noch fünf weitere Male um Dirigentenposten: am 29.4.1876 um die Vizehofkapellmeisterstelle an der Hofmusikkapelle als Nachfolger von Gottfried Preyer, am 7.1.1877 um die landesfürstliche Kapellmeisterstelle an der Kirche Am Hof (alte Jesuitenkirche), am 31.10.1877 um die Vizehofkapellmeisterstelle als Nachfolger von Joseph Hellmesberger, am 9.8.1880 um die Stelle des zweiten Chormeisters beim Wiener Männergesang-Verein und noch im Dezember 1889 um die Stelle des Burgtheater-Kapellmeisters (Gesuch nicht auffindbar). All diese Bewerbungen blieben jedoch aus verschiedenen Gründen erfolglos (vgl. Übersicht Bruckners Positionen mit Dirigierverpflichtung). Theophil Antonicek arbeitete in seiner Studie Anton Bruckner und die Wiener Hofmusikkapelle heraus, dass Bruckner sich durch sein oft opportunistisches Verhalten derart unbeliebt gemacht hatte, dass ihm keine vakant werdende Kapellmeisterstelle zuerkannt wurde; er hat deshalb auch nur gelegentlich Aufführungen seiner eigenen Messen leiten dürfen, nicht aber reguläre Aufführungen von Messvertonungen anderer Komponisten.

Man hat den Dirigiertätigkeiten Bruckners bisher nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt, vielleicht, weil er vor allem weltliche und geistliche Chöre des zeitgebundenen Repertoires aufführte, wenn er nicht in eigener Sache tätig war. Er war beispielsweise nie in der Position, große Symphonien anderer Komponisten aufführen zu können. Doch betrachtet man den Umfang seiner Dirigate insgesamt, ist diesem Berufsfeld in Bruckners Biografie sicher nicht weniger Beachtung zu schenken als seinen Tätigkeiten als Organist.

Von Bruckner dirigierte Aufführungen eigener Werke (nach Scheder)

Am Grabe Linz, 11.2.1861 (UA)
Ave Maria (WAB 6) Linz, 12.5.1861 (UA); Salzburg, 20/21.9.1861; Linz, 15.9.1863 und 10.5.1868; Wien, 8.12.1873, 18.7.1875, 30.7.1876, 17.6.1877, 9.11.1879, 2.2.1881 und 8.12.1885
Messe für den Gründonnerstag in F‑Dur Kronstorf, 4.4.1844 (UA, Aufführung unsicher)
Christus factus est (WAB 10) Wien, 8.12.1873 (UA) und 18.7.1875
Christus factus est (WAB 11) Wien, 9.11.1884 (UA)
Inveni David (WAB 19) Linz, 10.5.1868 (UA)
Locus iste Wien, 30.7.1876, 17.6.1877, 6.6.1880, 24.10.1880 (Leitung durch Bruckner unsicher), 2.2.1881, 30.4.1882 und 24.6.1883
Messe in d‑Moll Linz, 20.11.1864 (UA), 18.12.1864 und 6.1.1868; Salzburg, 11.9.1870 (Leitung durch Bruckner unsicher); Wien, 18.7.1875, 9.11.1879, 6.6.1880, 24.10.1880 (Leitung durch Bruckner unsicher) und 2.2.1881
Messe in e‑Moll Linz, 29.9.1869 (UA)
Messe in f‑Moll Wien, 16.6.1872 (UA), 29.(27.?, 28.?)6.1872 (sehr zweifelhaft), 8.12.1873, 30.7.1876, 17.6.1877, 30.4.1882, 24.6.1883, 9.11.1884 und 8.12.1885
Os justi Wien, 9.11.1879, 6.6.1880, 24.10.1880 (Leitung durch Bruckner unsicher), 30.4.1882, 24.6.1883 und 9.11.1884
Requiem in d‑Moll (WAB 39) St. Florian, 15.9.1849 und 11.3.1852 (Leitung durch Bruckner beide Male unsicher)
Te Deum Wien, 2.5.1885 (UA mit Begleitung von 2 Kl.)
Virga Jesse Wien, 8.12.1885 (UA)
Germanenzug Linz, 5.6.1865 (UA), 18.7.1868, 7.8.1868 und 12.9.1868; Wien, 3.7.1876 und 6.6.1880
Träumen und Wachen Wien, 15.1.1891 (UA)
Um Mitternacht (WAB 89) Linz, 11.12.1864 (UA)
Vaterländisches Weinlied Linz, 13.2.1868 (UA)
Vaterlandslied Linz, 4.4.1868 (UA)
„Das Frauenherz, die Mannesbrust“ Linz, 17.5.1868 (UA)
Erste Symphonie Linz, 9.5.1868 (UA)
Zweite Symphonie Wien, 26.10.1873 (UA) und 20.2.1876 (UA der 2. Fsg.)
Dritte Symphonie Wien, 16.12.1877 (UA der 2. Fsg.)

Bruckners Positionen mit Dirigierverpflichtung – Bewerbungen, Angebote, innegehabte Stellen (nach Scheder)

7.11.1860 bis September 1861 Chormeister der Liedertafel „Frohsinn“

22.6.1861

Bewerbung auf die Direktionsstelle des Dom-Musik-Vereins und Mozarteums in Salzburg

20./21.9.1861

Probedirigat in Salzburg
(Die Bewerbung scheiterte aufgrund von Intrigen; man hatte sich inzwischen intern schon auf Hans Schläger geeinigt.)
23.10.1863 Antragung der Leitung des Linzer Musikvereins
(Die bis Frühjahr 1864 andauernden Verhandlungen führten schließlich zu keinem Ergebnis.)
14.10.1867 Ansuchen um Aufnahme in die Hofmusikkapelle zu Wien (unter Hinweis auf u. a. seine Tätigkeiten als Chor- und Orchesterdirigent)
15.1. bis September 1868 Chormeister der Liedertafel „Frohsinn“

29.3.1868

Erneute Bewerbung beim Dom-Musik-Verein und Mozarteum in Salzburg, diesmal als Nachfolger von Schläger als Domkapellmeister und artistischer Direktor am Mozarteum
(Ablehnung am 11.5.1868)

9.9.1868–28.10.1892

Hoforganist und Mitglied der Hofmusikkapelle in Wien, zunächst als Exspektant, ab 24.1.1878 als wirkliches Mitglied

29.4.1876

Ansuchen beim Obersthofmeister Konstantin Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst um die Verleihung der Vizehofkapellmeisterstelle an der Hofmusikkapelle
(Die Stelle wurde am 3.5.1876 Joseph Hellmesberger zugesprochen.)
7.1.1877 Ansuchen bei der niederösterreichischen Statthalterei um die Verleihung der landesfürstlichen Kapellmeisterstelle an der Kirche Am Hof in Wien
(Die Stelle wurde am 26.5.1877 an Josef Böhm [1841–1893] vergeben.)
31.10.1877 Ansuchen beim Obersthofmeister um die Verleihung der Vizehofkapellmeisterstelle als Nachfolger von Hellmesberger
(Die Stelle wurde am 19.11.1877 an Hans Richter vergeben.)

9.8.1880

Bewerbung bei Eduard Kremser auf die Stelle des 2. Chormeisters beim Wiener Männergesang-Verein
(Trotz seiner Bitte an Kremser um Diskretion berichteten später Wiener Zeitungen über die erfolglose Bewerbung.)
Dezember 1889 Bewerbung auf die Stelle des Burgtheater-Kapellmeisters als Nachfolger von Julius Sulzer (1830–1891)
(Die Bewerbung blieb erfolglos.)
Literatur

BENJAMIN-GUNNAR COHRS

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 22.5.2018

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