Urteile über Komponisten

Voraussetzungen

Bruckner lernte Werke verschiedener Komponisten schon während seiner Jugend (auch durch Selbststudium in St. Florian) kennen und nahm bereits in Linz am städtischen Konzertleben Anteil. Er erlebte dort auch die ihn prägende Tannhäuser-Aufführung (Richard Wagner) unter seinem Lehrer Otto Kitzler und fuhr eigens zu Aufführungen von Ludwig van Beethovens Neunter Symphonie und Hector BerliozDamnation de Faust nach Wien. In die Residenzstadt übersiedelt, meldete er am 8.12.1868 seinem Förderer Johann Baptist Schiedermayr stolz die mit der Anstellung am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien verbundene Vergünstigung: „In die [Gesellschafts-]Conzerte u Hofoper habe ich freien Eintritt.“ (Briefe I, 681208). Bei den Konzerten der Wiener Philharmoniker frequentierte er meist den Stehplatz oder die Orgelgalerie. Das Hofoperntheater besuchte er dagegen seltener: „Auf einer Stufe der vierten Galerie sitzend“, also ohne Blickkontakt zur Bühne, hörte er sich – so wird berichtet – „ab und zu einen Aufzug aus einem Wagnerschen Musikdrama an“ (Stradal 1932, S. 971).

Von Bruckner gibt es – anders als bei vielen Komponisten seines Jahrhunderts – weder eine Autobiografie, ausführliche Tagebücher im üblichen Sinn, umfangreiche Briefwechsel mit anderen Komponisten noch gedruckte Musikkritiken über Werke anderer Komponisten oder gar Abhandlungen über musikalische Themen. Bei der Suche nach authentischen Urteilen Bruckners über Komponisten (hier besonders von Orchestermusik) müssen wir mit seinen Briefen und seinen Eintragungen in diversen Taschen-Notizkalendern vorliebnehmen, wobei die Briefe allerdings für die Sammlung von musikalischen Urteilen wesentlich unergiebiger sind als für seine Selbsteinschätzung (Persönlichkeit). Und an zumindest Musikernamen nennenden Notizen in seinen Taschen-Notizkalendern sind nur die Angaben zu seinen kompositionstechnischen Untersuchungen von Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem (Kalender 1877, s. Verborgene Persönlichkeit Bd. 1, S. 51f., 55ff.) sowie von Beethovens Dritter und Neunter Symphonie (Kalender 1876, s. Verborgene Persönlichkeit Bd. 1, S. 24–29, mit Bemerkungen zu seiner eigenen Vierten, die Bruckner allerdings erst 1878 eintrug), eher seltene Angaben über Konzertbesuche (1879–1891 neun Termine, ohne Beurteilung von Werk oder Interpretation) und die Notiz über alljährlich abgehaltene Gebete an den Gräbern Beethovens und Franz Schuberts am Währinger Ortsfriedhof (1884/85) zu nennen. Einzige Ausnahme ist 1890/91 seine Bemerkung über die Messe in d-Moll von Luigi Cherubini: „Comp[osition] schrecklich!!! Aufführung!!!“ (Verborgene Persönlichkeit Bd. 1, S. 429). Merkwürdigerweise fanden sogar seine ihn für sein ganzes Leben prägenden Begegnungen mit Wagners Schaffen (in Linz, München und Bayreuth) in diesen authentischen Quellen keinen Niederschlag. Leopold Nowak stellte zu Recht fest, dass Bruckner eben keine „literarische“ Persönlichkeit gewesen sei, „die, mitteilsam wie so manche andere, über sich und ihre Beschäftigung Aufschluß gegeben hätte; er beschränkte sich auf seine Unterrichtstätigkeit und sein Komponieren“ (Nowak, S. 105).

Mehr Material liefern – nur selten genau dokumentiert und manchmal auch divergierend – Biografien (hier in erster Linie die von August Göllerich und Max Auer), Unterrichtsmitschriften, Erinnerungsberichte von Freunden, Schülern etc. sowie Anekdoten: Hier werden Diskussionen im privaten Rahmen, aber auch z. B. in Gasthäusern, auf gemeinsamen Reisen, bei Konzertbesuchen oder im Unterricht bzw. während der Vorlesungspausen wiedergegeben – um authentischer zu wirken oft in direkter Rede, im Falle Bruckners also in einem meist stilisierten oberösterreichischen Dialekt.

Die Komponisten (nach ihren Geburtsjahren gereiht)

„Im Urteil über andere Komponisten war er zurückhaltend, vorsichtig und gelegentlich sarkastisch.“ (Göll.-A. 4/2, S. 135), war Anton Meißners Eindruck aus vielen persönlichen Gesprächen. Bruckner habe „leidenschaftlich nur Bach, Beethoven, Schubert, Wagner und Berlioz“ (Stradal 1932, S. 973) geliebt, überlieferte August Stradal. Meißner erweiterte diesen Kreis um Joseph Haydn und strich dafür Berlioz. Als Zeitgenosse ist allein Wagner immer dabei, was auch vom Schüler Franz Ludwig Marschner bestätigt wird (Göll.-A. 4/2, S. 132).

Äußerungen über ältere Meister sind selten zu finden. So war laut Stradal Bruckners Bewunderung für Georg Friedrich Händel (1685–1759) nicht so groß wie für Johann Sebastian Bach, in dem er „den Anfang, das Sein und Werden aller Kunst“ (Stradal 1932, S. 971) sah. Er habe bei Händel die „harmonischen Kühnheiten Bachs“ (Stradal 1932, S. 972) vermisst. Wahrscheinlich bezieht sich dies vor allem auf dessen Orgelmusik. Bei Konzerten, Prüfungen oder Concursen spielten Bruckners Orgelschüler auch deshalb wohl sehr häufig Werke von Bach. Die Österreichische Nationalbibliothek verwahrt eine Druckausgabe von Bachs Orgeltranskription (BWV 593) von Antonio Vivaldis (1678–1741) Concerto in a-Moll op. 3/8 (RV 522) aus Bruckners Besitz (ÖNB, Mus.Hs.38850).

In zunächst möglich erscheinendem Zusammenhang mit W. A. Mozart ist außer den Taschen-Notizkalender-Eintragungen authentisch nur der lapidare Satz: „Wie staunte ich heute über den Figaro.“ (Briefe I, 650121) in einem Linzer Brief überliefert, womit allerdings eine Karikatur Johann Herbecks in der satirischen Zeitschrift Figaro (21.1.1865, S. 1) gemeint war. Bruckners glühende (Göll.-A. 4/3, S. 168) Mozart-Verehrung (wesentlich geschürt von Johann Baptist Weiß und Leopold von Zenetti) und die vom Vorlesungsbesucher und späteren Prager Professor Heinrich Maria Schuster (1847–1906) wiederholt gehörte Äußerung, „was für ein großer Kontrapunktist Mozart war“ (Göll.-A. 4/1, S. 381), sind hier noch zu ergänzen. Allerdings hatte Bruckner in seiner St. Florianer Zeit regelmäßig Mozarts Te Deum KV 141 gehört und vermutlich schon nach der ersten miterlebten Aufführung am 25.12.1845 eine Abschrift der Fuge In te domine speravi verfasst (Hawkshaw, S. 178; Bruckner-Bestände des Stiftes St. Florian II, S. 230).

Das Erlebnis der Neunten Symphonie Beethovens hat Bruckner – wie ja auch Johannes Brahms – mitbestimmt, sich mit dieser Gattung zu beschäftigen. Neben Beethovens später Kammermusik bewunderte er vor allem dessen Symphonien, bei deren Anhören er sich regelmäßig in eine ungeheure Erregung gesteigert haben soll (Hruby, S. 21). Beethoven war für ihn laut Carl Hruby „die Incarnation alles Großen und Erhabenen in der Tonkunst“ (Hruby, S. 19).

Schubert, mit dessen Klängen Bruckner schon in Kronstorf „aufgewachsen“ war, stellte er zwar „nicht auf die höchste Stufe wie Bach und Beethoven“, liebte ihn „aber mit jeder Faser seines Herzens“ (Stradal 1932, S. 972). Stradal berichtet weiter, dass Bruckner Schubert die Rolle Johannes des Täufers, des „Vorläufer[s] Christi“ (Stradal 1932, S. 972), zuerkannte, denn: „Alle harmonischen Wendungen Schuberts deuten schon an, daß der Verheißene, Richard Wagner, am Kunsthimmel erscheinen werde. In dem Fragment der h-moll-Symphonie Schuberts fand er schon Spuren des kommenden Tristan.“ (Stradal 1932, S. 972).

Bei Berlioz, dessen Kunst er „viel höher [als jene von Liszt] stellte“, sollen Bruckner die „Instrumentation und Kontrapunktik“ imponiert haben, und „besonders das Requiem galt ihm als einer der Höhepunkte moderner Kunst“ (Göll.-A. 4/2, S. 169). Göllerich-Auer beschreiben noch die „widerstreitenden Überlegungen“ (Göll.-A. 4/2, S. 142) Bruckners nach einer (mangelhaften) Aufführung des Berlioz‘schen Te Deum, die sich in der Bemerkung entluden: „und kirchli‘ is‘ do‘ nöt!“ (Göll.-A. 4/2, S. 142).

Franz Xaver Müller hat den Ausspruch Bruckners überliefert: „Mendelssohn ist ein großer Komponist, aber ein Klassiker ist er nicht.“ (Göll.-A. 2/1, S. 35), was zwar objektiv richtig ist, von Bruckner jedoch subjektiv abwertend gemeint war, wenn er auch laut Stradal „manche seiner [Mendelssohns] Werke doch sehr hoch“ (Stradal 1932, S. 973) eingeschätzt habe. Einige lernte Bruckner bei den Vereinsveranstaltungen der Liedertafel „Frohsinn“ kennen, so manches Klavierstück war Grundlage für seine Instrumentationsstudien bei Kitzler und das eine oder andere verwendete Bruckner Zeit seines Lebens für den eigenen Unterricht (Wessely 1975, S. 89). In seiner ersten Schaffenszeit erhielt Bruckner auch Anregungen aus Werken von Felix Mendelssohn Bartholdy, da diese zum kompositorischen Reservoir des 19. Jahrhunderts gehörten. Wie stark Mendelssohn aber tatsächlich Bruckners Kompositionen beeinflusste, ist mit dem Nachweis, welche Werke ihm (vermutlich) bekannt waren (Wessely 1975, S. 92–112), nicht restlos geklärt (Winkler, S. 55).

Robert Schumanns Symphonien waren ihm laut Stradal „nicht besonders sympathisch; insbesondere ersah er in den langsamen Sätzen nicht den richtigen Adagiocharakter. Die Andantes Schumanns erschienen ihm wie erweiterte Romanzen, Schumanns Symphonien nannte er ›Sinfonietten‹“ (Stradal 1932, S. 973).

„Den eigentlichen Chopin kannte er […] gar nicht.“, meinte Stradal, der Bruckners Urteil „zu dämmerhaft, zu wenig scharf umrissen“ (Stradal 1932, S. 973) überliefert. Meißner berichtet, dass Bruckner Frédéric Chopin (1810–1849) „hoch verehrte und schätzte“ (Göll.-A. 4/2, S. 134), ein andermal dagegen, dass er ihn für „äußerst interessant“ (Göll.-A. 4/2, S. 136) hielt, einen Ausdruck verwendend, der bei Bruckner stereotyp und „oft sarkastisch“ (Göll.-A. 4/2, S. 136) gemeint gewesen sei.

Ähnlich indifferent sind Bruckners Äußerungen über Franz Liszt, einen der Begründer der Neudeutschen Schule und den ersten Musiker in dieser Reihe, mit dem er persönlichen Kontakt hatte. Zur Uraufführung der Legende von der hl. Elisabeth war er eigens nach Budapest gereist. Bruckner war laut Friedrich Eckstein davon überzeugt, dass seine „Art, Musik zu machen, [...] von der Liszts gänzlich verschieden“ (Eckstein, S. 141) sei. Zu Marschner äußerte sich Bruckner, Liszt sei „mehr Meister des homophonen Satzes, nicht so für‘s Kontrapunktische“ (Göll.-A. 4/2, S. 168). Die thematische Arbeit Liszts erscheine ihm dürftig, und über die Fugen schüttle er den Kopf. Stradal, der mit beiden engsten Kontakt hatte, bezeugt, dass Bruckner nur ein symphonisches Werk Liszts genau gekannt und auch geschätzt habe: die Faust-Symphonie, in der er „die Themen, den kolossalen Aufbau, die Instrumentation, die harmonischen Kühnheiten“ (Stradal 1932, S. 973) bewundert habe, wenn ihm auch manches – nach Göllerich-Auer – wiederum „zu gewagt erschienen“ (Göll.-A. 3/1, S. 246) sei. Den anderen Werken Liszts stand Bruckner laut Stradal „fremd gegenüber“ (Stradal 1932, S. 973) und war nur „von einzelnen Teilen entzückt“ (Stradal 1932, S. 974). Die Graner Messe und die Krönungsmesse soll er dagegen sehr geliebt haben (Stradal 1932, S. 974). Es fehlte wohl „nie an konventioneller Hochachtung gegenüber dem älteren Meister“ (Wessely 1986, S. 71), dessen Schriften er aber nicht kannte. Immerhin sollen beide vermutlich 1885 in einem Gespräch auf die Kühnheiten der neueren Musik zu sprechen gekommen sein (Göll.-A. 4/2, S. 330).

Eine ganz anders geartete und ganz einseitige Hochachtung hat Bruckner Wagner entgegengebracht. Ausdrücke wie „dem unerreichbaren, weltberühmten und erhabenen Meister der Dicht- und Tonkunst“ (Teil der Widmung der Dritten Symphonie) oder „zum Andenken seines unerreichbaren Ideals, des heißgeliebten, unsterblichen Meisters aller Meister“ (Göll.-A. 4/2, S. 111) etc. legen beredt Zeugnis ab. Abgesehen von der Widmung der Dritten Symphonie gibt es nur zwei authentische Äußerungen über Wagner: 1868 schrieb er in einem Brief an Hans Guido von Bülow von seinem „erhabenen Vorbilde Wagner“ (Briefe I, 680620/2), 1882 will er – wie er 1891 Hans Paul Freiherr von Wolzogen berichtete – anlässlich eines Zusammentreffens mit Wagner ergriffen zu diesem gesagt haben: „O Meister ich bethe Sie an!!!“ (Briefe II, 910211/2). Einerseits soll Bruckner Wagner rein vom Klang her gehört und verstanden haben. Stradal überlieferte: „[…] alles war ihm nur der Tondichter. Die dramatischen Dichtungen Wagners, seine Philosophie und Weltanschauung, die übrigen literarischen Werke fesselten ihn nicht, er hat sie auch nie gelesen.“ (Aussiger Tagblatt 4.9.1924). Er lauschte, „auf das Bühnenbild verzichtend, dem Klangzauber“ (Göll.-A. 4/2, S. 178). Andererseits habe es Stellen in der Handlung gegeben, die Bruckner sehr wohl tief ergreifen konnten: z. B. im Siegfried die Passage, wo der Held von seiner Mutter träumt, und die Waldvogelszene, in Götterdämmerung das Rheintöchterterzett und Siegfrieds Tod. Dass Bruckner 1865 Tristan und Isolde angeblich aus einem textlosen Klavierauszug studiert habe, wird durch Bruckners vielleicht ebenso nur angebliche Antwort auf die Frage nach seiner Begeisterung für Götterdämmerung relativiert: „weil darin so viel g‘schiacht“ (Göll.-A. 4/2, S. 179), womit er den häufigen Szenenwechsel meinte und nicht, wie man schließlich auch folgern könnte, die Fülle musikalischer Ereignisse. Ganz so ahnungslos hat er sich denn auch der Schriftstellerin Gertrud Bollé-Hellmund gegenüber nicht gezeigt, die mit ihm über ein Opernlibretto (Kompositionsprojekte) verhandelte: Er bedauerte, „kein Dichter [zu sein], wie der herrliche Wagner“ (Göll.-A. 4/3, S. 349). Den Schriftsteller Wagner hat er allerdings überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.

Bei einer Aufführung von Giuseppe Verdis (1813–1901) Messa da Requiem, deren Klavierauszug er sogar besaß, soll Bruckner zu einem seiner Schüler gesagt haben: „G‘fallt ma nöt!“ (Göll.-A. 4/2, S. 576) und, als dieser ihn auf eine Doppelfuge aufmerksam machte, verärgert gewesen sein, „daß er nur für einen Kontrapunktiker gehalten wird“ (Göll.-A. 4/2, S. 576). Weitere Werke Verdis dürfte Bruckner nicht gekannt haben, jedenfalls hatte er die schon damals sehr bekannte Melodie des „Miserere“ aus dessen Il Trovatore zur Überraschung Alexander Fraenkels nicht erkannt.

Bruckners Einschätzung von Charles Gounod (1818–1893), den er in Paris kennengelernt hatte, wird von Göllerich-Auer wiedergegeben: „Der hat ma alleweil aus ,Romeo und Julia‘ so fade Sach‘n vorg‘spielt.“ (Göll.-A. 4/1, S. 97). Über dessen Faust mit den „gefälligen Melodien, die so angenehm ins Ohr fließen“, soll er entsetzt gewesen sein und sarkastisch gefragt haben, was denn „der Goethe zu dieser ,wunderschönen‘ Oper gesagt“ (Göll.-A. 4/3, S. 349) hätte.

Johann Strauss (Sohn) war ein von Bruckner „hochgeschätzte[r] Meister[ ] der heiteren Muse“ (Göll.-A. 4/2, S. 433), mit dem er sich auch verbrüderte (Göll.-A. 4/2, S. 468). Hruby überlieferte die anekdotische Äußerung, dass Bruckner ein Walzer von J. Strauss lieber „als eine ganze Symphonie von – – – “ (sc. natürlich Brahms) gewesen sei (Hruby, S. 38).

Sein Schüler F. Marschner bürgt für folgenden Ausspruch Bruckners: „Seit Wagners Tod ist der größte Künstler Anton Rubinstein.“, allerdings nur als Pianist; als Komponist sei er ihm „viel zu konservativ“: „Was will man machen, wenn die neue Richtung gänzlich vermieden wird?“ (Göll.-A. 4/2, S. 132).

Über die gegenseitigen Beurteilungen der „Antipoden“ Bruckner und Brahms resümiert Constantin Floros: „Klammert man das Anekdotische aus und beschränkt man sich auf das sicher Verbürgte, so ließe sich sagen, daß das Verhältnis von gegenseitigem Unverständnis bestimmt wurde.“ (Floros, S. 20). In keinem seiner Briefe oder Taschen-Notizkalender äußert Bruckner selbst eine deutliche Meinung über Kompositionen von Brahms, dessen Werke er aber alle kennenzulernen bestrebt gewesen sein soll, um sich ein eigenes Urteil zu bilden. Seinem Schüler Josef Vockner soll er anvertraut haben, Brahms sei „a tüchtiger Musiker, der was kann, aber ka Symphonie-Komponist; er hat kane Themen“ (Göll.-A. 4/2, S. 237); ähnlich jovial auch zu der Sängerin Rosa Papier-Paumgartner: „[…] der Brahms is‘ a sehr braver Komponist, der sehr guate Sachen schreibt, aber – – – – meine Sacherln san‘ ma halt do‘ a bisserl liaba!“ (Göll.-A. 4/2, S. 237), was Bruckner auch Brahms direkt gesagt haben soll – im Gasthaus „Roter Igel“, wo sie sonst (nach Ansicht aller Gewährsleute) so gut wie nie über Musik gesprochen haben sollen. Laut Marschner bezeichnete Bruckner Brahms als „große[n] Kontrapunktist“ (im negativen Sinn), als „Macher“ und fuhr fort: „Wer sich durch Musik beruhigen will, der wird der Musik von Brahms anhängen; wer dagegen von der Musik gepackt werden will, der kann von jener nicht befriedigt werden.“ (Göll.-A. 4/2, S. 131f.). Ergänzend überliefert Meißner den Ausspruch, dass „Brahms [...] für kalte Naturen und Protestanten“ sei, aber nichts für „feurige Naturen und Katholiken“ (Göll.-A. 4/2, S. 135). Auch Bruckners Ansicht, dass bei Brahms „jeder Takt ausspintisiert, alles gelehrt“ (Göll.-A. 3/1, S. 584) sei, während bei ihm selbst alles aus dem Herzen komme, ist zu lesen. Ein Brahms-Thema hat Bruckner – wie Eckstein von Ferdinand Löwe hörte – aber doch gefallen: das erste Thema des Klavierkonzerts Nr. 1; „ein auch nur annähernd gleichwertiges“ sei Brahms in keiner seiner Symphonien gelungen. Diese habe Bruckner „als unbedeutend“ empfunden, „dürftig in der Erfindung, bar jeder wahren Größe, die Themen harmonisch recht uninteressant, die Durchführung seicht, die Instrumentation kahl und farblos“ (Eckstein, S. 174). So detailliert informierte uns Bruckner sonst über keinen seiner Komponisten-Kollegen – zu heftigeren Reaktionen oft sicherlich durch den ständigen „Parteienstreit“ provoziert.

Welche Werke von Antonín Dvořák Bruckner gekannt hat, ist nicht bekannt. Im Gespräch mit böhmischen Musikern in Prag fiel laut Marschner der lapidare Satz: „Ich bin kein Verehrer von ihm“ (Göll.-A. 4/2, S. 164). Nach der Aufführung eines Dvořák‘schen Kammermusikwerkes habe er sich – „offenbar [...] gereizt durch die Förderung, die Dvořak im Gegensatz zu ihm selbst erfuhr“ (darunter auch von Brahms) – „äußerst abfällig, ja verächtlich“ (Göll.-A. 4/2, S. 130) geäußert. Laut einer Wiener Korrespondentenmeldung vom 27.5.1893 in der in Paris erscheinenden Europa-Ausgabe des amerikanischen Herald soll er in einem Gespräch, an dem auch Eusebius Mandyczewski (1857–1929) und Hans Richter teilnahmen, gesagt haben: „Grundlage jeglicher Musik muß die Klassik sein. Negermelodien können niemals als Grundsteine für eine neue Musikschule dienen.“ Mandyczewski habe sich ähnlich geäußert, sein Landsmann Dvořák sei „allzu sehr beeinflußt [...] von dem Milieu, das ihn zur Zeit umgibt“ (Udommana, S. 25).

Robert Fuchs, jüngerer Kollege am Wiener Konservatorium, soll ebenfalls „durch großes Interesse“ Bruckners ausgezeichnet worden sein. Und der 3. Satz der Ersten Serenade von Fuchs „geht einem in d‘ Füß, […] da möcht‘ ma tanzen!“ (Göll.-A. 4/1, S. 31). Von den weiteren der insgesamt fünf wiederholt mit größtem Erfolg in Wien aufgeführten Serenaden liest man allerdings nichts.

Von seinem auch privat geförderten Orgelschüler Hans Rott, den er einen ausgezeichneten Bach-Spieler und Improvisator nannte (Briefe I, 770614) und den er für Arbeiten an seiner Dritten bzw. Vierten Symphonie einsetzte, kannte und schätzte Bruckner wohl einige Werke, besonders dessen 1. Symphonie. Die Qualität des Stirnsatzes, der am 2.7.1878 bei Rotts Teilnahme am Wettbewerb im Konservatorium aufgeführt wurde, soll Bruckner gegen die negativen Beurteilungen seiner Prüfungskollegen mit der deutlichen Aussage verteidigt haben: „Lachen Sie nicht, meine Herren, von dem Manne werden Sie noch Großes hören!“ (Hruby, S. 12f.; vgl. auch Scheder, S. 49). Der frühe Tod seines „Lieblingsschülers“ ging ihm sehr nahe. Er erkundigte sich wenig später bei Joseph Seemüller (1855–1920), einem Freund Rotts, nach dessen hinterlassenen Kompositionen.

Von Hugo Wolf, der engen Kontakt zu Bruckner hatte, kannte dieser nachweislich Kompositionen (z. B. dessen Musik zu Henrik Ibsens [1828–1906] Fest auf Solhaug und die Symphonische Dichtung Penthesilea). Stradal berichtet aber nur von „rege[r] Teilnahme“ (Stradal 1932, S. 973), die Bruckner Wolf entgegengebracht habe, dass er aber andererseits „der lyrischen Erscheinung Wolfs fremd“ (Stradal 1932, S. 859) gegenübergestanden sei. Dagegen will Meißner erfahren haben, dass Wolf von Bruckner „als de[r] talentvollste[ ] der jungen, neudeutschen Schule“ (Göll.-A. 4/2, S. 136) bezeichnet worden sei. Und Göllerich-Auer bestätigen, dass Bruckner nach Wagners Tod „Wolf als den einzigen wirklich genialen Komponisten seiner Zeit“ (Göll.-A. 4/2, S. 485) geschätzt habe, dessen „Urwüchsigkeit und die kühne Harmonik“ (Göll.-A. 4/2, S. 485) ihn besonders interessiert hätten.

Die großen Orchesterwerke Gustav Mahlers, der zwar – auch laut eigener Aussage – kein Bruckner-Schüler war, aber dennoch über mehrere Jahre ein trotz des Altersunterschiedes freundschaftliches Verhältnis zu Bruckner pflegte (und den ersten vierhändigen Klavierauszug zur Dritten Symphonie gemeinsam mit Rudolf Krzyzanowski, vielleicht sogar mit Unterstützung H. Rotts, herstellte), entstanden erst nach seiner Abreise aus Wien, als der Kontakt beider weniger intensiv war. So ist es nicht verwunderlich, wenn von Bruckner laut Göllerich-Auer nur überliefert ist, dass er Mahlers „Talent besonders schätzte“ (Göll.-A. 4/1, S. 451). Ähnliches berichtete auch der Hamburger Kritiker Wilhelm Zinne (Göll.-A. 4/3, S. 247).

Der jüngste Komponist, über den einige Bruckner-Äußerungen zu finden waren, ist Richard Strauss, wie Bruckner ein großer Verehrer Wagners. Bruckner kannte die Tondichtung Don Juan, der er laut Stradal „eine große Zukunft prophezeite“ (Stradal 1932, S. 973). Auch Till Eulenspiegels lustige Streiche hat er – nachweislich sogar zweimal (5.1. und 29.3.1896), damals schon schwer krank – gehört und soll laut Stradal „nicht bloß die kühne Instrumentation, sondern die ihm so sehr sympathische große Vielstimmigkeit“ (Stradal 1932, S. 973) bewundert haben, wogegen Meißner nur Bruckners sarkastisches „äußerst interessant“ (Göll.-A. 4/2, S. 136) gehört haben will. Laut Theodor Helm habe ihm Bruckner allerdings gesagt, dass er diese „köstliche Humoreske“ ein zweites Mal anhören wollte, da er sie „am 5. Jänner nicht völlig verstanden habe, obwohl sie ihn ungemein interessierte“ (Helm, S. 263).

Nicht mehr als ausgebildeten Komponisten erlebte Bruckner Émile Jaques-Dalcroze. Bruckner nannte ihn nach heftigen Auseinandersetzungen einen ,dummen Franzosen‘ (www.allianceamm.org/resources/dalcroze/ [24.5.2018]) und wollte ihn aus dem Konservatorium werfen, worauf die Leitung ihn nach einem Probespiel vor einer sechsköpfigen Jury in der Klasse von Adolf Prosniz (1829–1917) unterbrachte.

Resümee

Diese doch eher magere Ausbeute an „Urteilen“ – besonders was deren Qualität betrifft – mag darin begründet sein, dass Bruckner der musikalischen Produktion seiner Zeit indifferent gegenüberstand, wie schon A. Fraenkel vermutete: „Er schien gar kein Bedürfnis zu haben, die Werke anderer Meister kennen zu lernen“, ihm sei „von den zeitgenössischen Komponisten eigentlich nur Richard Wagner wirklich bekannt“ (Göll.-A. 4/2, S. 29) gewesen. Dem befreundeten Ehepaar Moritz und Betty Mayfeld soll Bruckner sogar gestanden haben: „[...] i mag mi net irr‘ machen lass‘n. Fremde Musik bringt mi ganz aus der Schanier!“ (Göll.-A. 3/1, S. 167). In seinen Vorlesungen konnte er sich denn auch nur ganz allgemein zur Empfehlung des „Studium[s] guter Kompositionen“ (Schenk, S. 147) entschließen.

„Fremde Musik“ hat Bruckner grundsätzlich nach seinen eigenen musikalischen Maximen, nicht unbedingt historisch „gewertet“. Er schätzte die Beherrscher des Kontrapunkts und harmonischer Kühnheiten, legte Wert auf Periodenbau, thematische Arbeit, Polyphonie, eindrucksvolle Instrumentation und vor allem Themenerfindung. Musik musste für ihn aus dem Herzen kommen, urwüchsig-kraftvoll sein. Die uns überlieferten Urteile über Musik anderer drücken in einzelnen Fällen Bewunderung aus, wo eher Verwunderung, d. h. Unverständnis, herrschte.

Die Namen einiger der erwähnten Komponisten allein treten allerdings auch in anderen Zusammenhängen häufiger auf, und da auch in den authentischen Quellen, besonders bei von Bruckner angestellten Vergleichen zwischen sich selbst und seinen „Hausgöttern“ oder seinen „Feinden“, womit durchaus sein Selbstbewusstsein, sein Selbstwertgefühl zum Ausdruck kommen: Auf die in Wien kursierende Redensart von den drei großen B der Musik reagierte er, „mit Beethoven dürfe er nicht in eine Reihe gestellt werden, mit Brahms wolle er es nicht“ (Göll.-A. 4/2, S. 572). In anderem Zusammenhang: „Wenn ich mich auch nicht mit Schubert und solchen Meistern vergleichen kann, so weiß ich doch, daß ich ,Wer‘ bin und meine Sachen von Bedeutung sind“ (Göll.-A. 4/2, S. 133). Mit Beethoven soll er sogar Gespräche konstruiert haben, um seine musikalischen Vorstellungen – gleichsam vom Allerhöchsten – bestätigen zu lassen. Und bei einem entsprechenden Vorwurf soll er sich mit „[...] auch von Wagner sind nicht alle Gedanken gleich großartig“ (Hruby, S. 19) verteidigt haben. Aber auch Äußerungen einiger Komponisten über ihn selbst benutzte Bruckner: positive, um sie – von anerkannten Kapazitäten wie etwa Wagner und Liszt stammend – als unanfechtbares Zeugnis bei allen nur möglichen Gelegenheiten ins Treffen zu führen (z. B. 1869: „Liszt ist sehr lieb, er machte mir interessante Bemerkungen über mein Talent, was ich jedoch noch bezweifle.“, Briefe I, 690415/1; 1875, schon selbstbewusster: „Wagner hat meine D moll Sinfonie als sehr bedeutendes Werk erklärt.“, Briefe I, 750601; 1893: „Ein Urtheil Wagners über mich erfuhr ich neulich erst, worin er sagte: ich sei der einzige, dessen Gedanken bis zu Beethoven hinaufreichen. Groß!“, Briefe II, 930905); negative, in seinen Augen ausschließlich von seinen Gegnern herrührende, um Enttäuschung oder Gekränktheit auszudrücken (z. B. 1875: „Brahms scheint in Leipzig meine Cmoll Symfonie N 2 unterdrückt zu haben.“, Briefe I, 750112; 1886: „Von Hanslick u leider auch von Brahms sind mir für mich so kränkende Geschichten erzählt worden“, Briefe I, 860616/2).

Bruckner hörte übrigens bei seinem letzten Konzertbesuch – am Palmsonntag, 29.3.1896 in Wien – Cherubinis Ouvertüre zu Medea, Strauss’ Till Eulenspiegel, eine ‚Novität‘, die er kurz zuvor schon einmal gehört hatte, sowie Wagners Liebesmahl der Apostel und Ausschnitte aus Tannhäuser, ein von ihm sehr geschätztes Werk seines ‚Meisters‘.

Literatur

UWE HARTEN

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 13.7.2018

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