Interpretation

Die Auseinandersetzung mit der Interpretation der Werke Bruckners wird durch die vorhandenen Tonaufnahmen (Diskografie) erleichtert. Erste Schallplattenaufnahmen entstanden in den 1920er Jahren. Die später erfolgten tontechnischen Verfeinerungen und die vielfachen Möglichkeiten akustischer Reproduktion (Radio, TV usw.) verhalfen dem Werk Bruckners zu bedeutender und weltweiter Verbreitung. Es geschah dies mit ungleich stärkerer Wirkung als durch die seinerzeitige Vermittlung allein durch Konzertaufführungen. Noch in den späten 1960er Jahren füllte im Bielefelder Katalog die Aufstellung der Bruckner-Schallplatten nicht mehr als eine DIN-A4 Seite, während im Jahr 2012 die Auflistung drei Seiten in Kleinstdruck umfasste und allein von der Siebenten Symphonie rund 40 Aufnahmen aufwies. Neben Aufnahmen aus neuester Zeit sind in dieser Aufstellung auch Einspielungen enthalten, die weit zurück in historische Bereiche führen (unter Dirigenten wie Siegmund von Hausegger, Hermann Abendroth, Volkmar Andreae, Wilhelm Furtwängler u. a.). Die Schallplatte wurde von Anfang an als nur bedingt taugliches Richtmaß für Interpretationsvergleiche aufgefasst. Erst die technisch weiter entwickelten Tonträger wurden zu unentbehrlichen Hilfsmitteln der Bruckner-Interpretation. Dank der heutigen verbesserten Reproduktionstechnik konnte beispielsweise eine Aufnahme der Siebenten Symphonie unter Jascha Horenstein von 1928 adäquat aufbereitet werden und steht nun als Vergleichsobjekt zur Verfügung.

Interpretation von Bruckners Symphonien

Als Bruckners Symphonien ihre allerersten Aufführungen erlebten, standen die Werke an sich im Zentrum der Betrachtung und der Beurteilung, kaum aber die Art und Weise ihrer Wiedergabe. Die frühesten Dirigenten von Bruckners Werken, darunter Hans Richter, der die meisten Uraufführungen zu Bruckners Lebzeiten dirigierte, Arthur Nikisch, der Uraufführungsdirigent der Siebenten Symphonie, sowie die für Bruckners Kunst vollen Einsatz leistenden Kapellmeister Ferdinand Löwe, Felix Mottl, Hermann Levi und Hausegger, wirkten teils noch lange über Bruckners Tod hinaus und vermittelten ihre Interpretationen an die folgende Generation – teils aktiv als Lehrer – weiter. Dennoch etablierte sich keine eigentliche „Schule“ der Bruckner-Interpretation. Am wenigsten dazu war vom Komponisten selbst zu erfahren (Bruckner als Dirigent), der sich viele wohlgemeinte Eingriffe in sein Werk ohne Widerspruch gefallen und auch dem Kapellmeister gerne freie Hand ließ. Als ihn Richter wegen einer nicht ganz eindeutig bezeichneten Stelle in der Partitur befragte, soll er geantwortet haben „Ganz wie Sie wünschen, Herr Hofkapellmeister!“ (Göll.-A. 4/1, S. 633). Sein devotes Verhalten gegenüber seinen Interpreten zeigt sich auch in Bruckners Briefwechseln (Briefe) mit Dirigenten wie Nikisch, Levi, Mottl, Karl Muck und Felix Weingartner.

Im späten 19. Jahrhundert hatte sich bereits das moderne Selbstverständnis der Dirigenten ausgeprägt, dem Komponisten bei der Interpretation seiner Werke auf nahezu gleicher Ebene zu begegnen und jene nach den eigenen künstlerischen Vorstellungen gestalten zu dürfen. Dieser Aspekt spielt auch in der Beziehung Bruckners zu Franz und Josef Schalk, Löwe und Gustav Mahler eine erhebliche Rolle, die sich maßgeblich um die Aufführung und Anerkennung seiner Symphonien bemühten und dabei zur Bearbeitung seiner Partituren berechtigt sahen. Mit Kürzungen sowie erheblichen Änderungen der Instrumentation und aufführungspraktischer Details (Tempo, Spielanweisungen, Dynamik, Artikulation) wollten sie die Symphonien den Hörerwartungen des Publikums und dem schon etablierteren Wagner‘schen Klangbild anpassen – die meisten der frühen Bruckner-Dirigenten waren Richard Wagner bzw. der Neudeutschen Schule verbunden, u. a. auch Karl Klindworth, Muck, Jean Louis Nicodé, Anton Seidl, Weingartner und Herman Zumpe.

Diese nur teilweise von Bruckner akzeptierten und für bestimmte Aufführungskontexte entstandenen Bearbeitungen, fanden in die Erstdrucke Eingang, deren Notentexte bis zum Erscheinen der Alten Gesamtausgabe (AGA) ab den 1930er Jahren vornehmlich für Aufführungen herangezogen wurden. Die Mehrheit der Dirigenten setzte sich mit den Notentexten der AGA auseinander, wobei die Mischfassungen („Originalfassungen“) von Robert Haas zu Diskussionen führten. Einige wenige hielten bewusst an den Erstdruckfassungen fest, viele andere jener Generation behielten aus Gewohnheit Eigenheiten der Erstdruckfassungen bei. Hausegger war der erste Dirigent, der sich maßgeblich für die Verwendung der originalen Notentexte einsetzte. Mittlerweile ist es zur Selbstverständlichkeit geworden, diese der Interpretation zugrunde zu legen.

Den Nimbus eines beispielgebenden Bruckner-Dirigenten hatte sich im 20. Jahrhundert eine große Anzahl von Kapellmeistern erworben. Carl Schuricht etwa, einer der frühesten Bruckner-Dirigenten der Schallplattengeschichte, konnte ein Bruckner-Bild schaffen, das Vorbildcharakter hatte und als gültig angesehen wurde. Seine frühe Aufnahme (1938) der Siebenten Symphonie mit den Berliner Philharmonikern besticht auch heute noch durch ihre Klarheit der Formgestaltung. Allerdings verwendete er zum Teil noch die bearbeiteten Fassungen der Erstausgaben. Wenn man Hans Knappertsbusch als herausragenden Bruckner-Dirigenten des 20. Jahrhunderts nennt, dann ist dabei zu bemerken, dass dieser Musiker durch Richter, dessen Assistent er in Bayreuth war, einen wertvollen Fundus von Erfahrung nicht nur für die Wagner- sondern auch für die Bruckner-Interpretation mitbekommen hatte. Knappertsbusch steht allerdings auch für unbeirrbares Festhalten an tradierten „Glaubenssätzen“; für ihn gab es kein Abweichen von der ersten, als gültig aufgefassten Aneignung und neue Erkenntnisse der Forschung um Bruckners Werke befand er als nicht relevant. Als Musiker, der sich ganz dem Musikleben des 19. Jahrhunderts verbunden fühlte, hielt dieser Dirigent an den bearbeiteten Versionen der Bruckner-Symphonien fest und dirigierte beispielsweise die Fünfte Symphonie noch in seinen späten Jahren in der Bearbeitung von F. Schalk. Knappertsbusch, der einen opulenten, breitspurigen Aufführungsstil bevorzugte, galt nicht ohne Grund als der „wagnerischste“ unter den Bruckner-Dirigenten.

Eine gegensätzliche Haltung nahm unter den Bruckner-Dirigenten des 20. Jahrhunderts Karl Böhm ein. Er war um die Aufführung der originalen Fassungen der Symphonien bemüht, wofür er nach deren Erscheinen zunächst die AGA, später die Neue Gesamtausgabe (NGA) heranzog, und setzte sich zeitlebens mit der Fassungsproblematik auseinander. Auch war er Verfechter einer möglichst unverfälschten, analytischen Werkwiedergabe. Andreae setzte sich als Konzert- und Schallplattendirigent ebenfalls mit den „gereinigten“ Fassungen auseinander und befolgte einen unprätentiösen und in seiner Schlichtheit umso wirkungsvollen Vortragsmodus.

Erst mit dem Erscheinen der NGA (nach 1951) wagten sich mehr und mehr Dirigenten an die nunmehr gesicherten Texte heran, auch wenn – und dies ist verblüffend – viele von ihnen nach wie vor die Fassungen der AGA bzw. eigene Fassungen bevorzugten – ohne auf diesen Umstand gesondert hinzuweisen. Abgesehen von einigen Individualisten wie Sergiu Celibidache, die ihren eigenen Vorstellungen folgten (vor allem was das langsame Tempo betrifft) und sich frei von jeder Quellenedition und jeder Aufführungspraxis zu wissen glaubten, lassen sich vier Grundelemente der Interpretationsauffassung fixieren, nach denen sich die Wiedergaben von Bruckners Werken (fallweise auch ihre Realisation auf Tonaufnahmen) mehr oder weniger richten. Es sind dies: der religiös belastete Aspekt (feierlicher Kirchenklang), die Analogie zu einem spätromantischen Wagner-Klang (Klangrausch), die Sichtweise einer strukturellen Analyse (Moderne) und das Hervorkehren kontrastierender Klangelemente (im Sinn des Chiaroscuro).

Die beiden erstgenannten Aspekte sind zweifellos ein Erbe der historischen Vergangenheit, vor allem das Bestehen auf jenen zweiten und dritten Fassungen, die von der deutschnationalen Wagnergemeinde eingefordert wurden, während die Strukturanalyse eher von Interpretationsmustern der Moderne herrühren dürfte und das Hervorkehren kontrastierender Klangelemente zweifellos ein Ergebnis der Studien der Erstfassungen des Bruckner’schen Œuvres ist.

Neben diesen rein musikalischen sind auch noch einige weitere – teilweise triviale – Faktoren zu nennen, die mit der Auffassung von Bruckners Persönlichkeit in Verbindung stehen und mitunter das Spektrum der Interpretation beeinflussen: 1) Bruckner, der religiöse Mystiker (Mystik), „den die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen“ (Kalbeck, Bd. 3, S. 408, Anm. 1; Johannes Brahms) hatten und der in einer engen, von kirchlicher Autorität bedrückten Gedankenwelt lebte. In positiver Schau konnte daraus der demütig-fromme Meister werden, für den jede musikalische Ausübung zum Gottesdienst wurde (Der Musikant Gottes). 2) Bruckner, der Wagnerianer, der das musikdramatische Prinzip Wagners auf die symphonische Sphäre übertrug (Eduard Hanslick). 3) Bruckner, der bedeutende Organist, der geniale Improvisator, der die Klangpracht der Orgel in das symphonische Orchester einbrachte. 4) Und schließlich Bruckner, die tragische Figur: angefeindet, verlacht, verhöhnt, zuletzt aber nach dem Grundsatz „per aspera ad astra“ zu hehrer Größe aufsteigend. Reste solcher Ansichten leben bis heute fort und beeinflussen oft die Einschätzung von Werk und Wiedergabe. Man schreibt von betont „romantischen“, „weihevollen“ oder „vergeistigten“ Wiedergaben, andererseits von „rein analytischen“ Interpretationen, die sich nur auf strenge Befolgung aller in der Partitur markierten Notate berufen. Es ist sehr schwer, solche Epitheta auf ihren Wahrheitskern zu überprüfen, weil es für das „Romantische“, das „Vergeistigte“ oder das „Analytische“ kaum real messbare Kriterien gibt, außer dass man gewisse Dehnungen, spezielle Betonungen oder Straffungen als Handhabe verwendet.

Bei einigen Dirigenten lassen sich anhand von Tonaufnahmen im Laufe ihres Lebens Veränderungen ihrer Sichtweisen erkennen, vor allem wenn sie eine größere Zahl von Einspielungen und ganz besonders wenn sie mehrere Einspielungen desselben Werks in verschiedenen Lebensstadien vorwiesen. Sie scherten aus den leicht trennbaren Faktoren der Interpretationssystematik aus und wechselten zu anderen. Dies kann punktuell erfolgt sein, wie im Falle Herbert von Karajans, der sich, erst ganz dem romantischen Vollklang huldigend, in seinen letzten Einspielungen der Symphonien schließlich eindeutig einer strukturellen Sichtweise zuwandte. Dies kann aber auch schleichend erfolgt sein, wie im Falle Daniel Barenboims, der sich erst langsam von einer romantisierenden Wagnerrauschdimension in Richtung Strukturalität umorientierte. Mit Stereotypen wie „jugendlicher Elan“ oder „Altersweisheit“ muss man hier vorsichtig umgehen, da sie oft nicht zutreffen.

Der religiös belastete Aspekt ist im Wesentlichen ein Erbe der Brucknergemeinde, die seit den 1880er Jahren als solche auch auftrat und in den 1930er und 1940er Jahren ihre dominante Position behauptete. Löwe und Nikisch, aber auch Hausegger waren die Wegbereiter dieser Idee, die in den 1970er Jahren noch Eugen Jochum und ein wenig Bernard Haitink, aber auch große Individualisten wie Carlo Maria Giulini fortführten. Am deutlichsten wird das zweifellos in der Vokalmusik mit der Betonung des textlich-emotionalen Schwergewichts und starker crescendo- und decrescendo-Wirkungen, Tempoverzögerungen und -beschleunigungen und Auskosten der unmittelbaren Orgeltransformation.

In die Nähe dieses Gesichtspunkts, wenn auch mit ungezügelter Dynamik, kommt auch die Analogie zum Wagnerklang, den nahezu alle Dirigenten der älteren Generation, vor allem natürlich die deutschsprachigen, anstrebten. Ausnahmen dieser Generation waren zweifellos Karajan und Giulini, wobei Karajan nicht einmal so sehr von seinem eigenen kammermusikalischen Wagnerklang entfernt war, während Giulini völlig immun gegen Klangballungen blieb. Deutlichster Beleg für die wagner‘schen Klangballungen ist der Einsatz des Tremolo, das Jochum immer als etwas Theatralisch-Dramatisches verstand, wovon sich etwa Haitink – trotz einer gewissen Jochum-Nähe – distanziert. Merkwürdigerweise findet diese Klangrichtungsdominanz bei jüngeren, eher noch auf dem Weg zum internationalen Ruhm sich befindenden Dirigenten Widerhall. Dies mag damit zusammenhängen, dass sie einerseits nicht von der politischen Belastung des Wagnerklangs bestimmt sind, andererseits wenig Musik außerhalb des Werkes Wagners finden – also fast keine im Konzertsaal –, die ihnen diese Klangballungen ermöglicht.

Es waren – ähnlich wie bei Franz Schubert – die Italiener, und zweifellos zählt Karajan im Geiste zu ihnen, die einen neuen Gesichtspunkt in die Interpretationsdiskussion einbrachten, indem sie, auch wenn sie sich nicht an die Texte der Gesamtausgabe hielten, das strukturelle Moment stärker betonten. Dies bedeutete zum einen das völlige Durchdringen des musikalischen Textes mit der melodischen Diktion, ganz gleichgültig, wo sie sich aufhält, also Fortführung der Linie, die sich durch alle Systeme, Schlüssel und Tonhöhen hindurchwindet und in ihrer Kontinuität erst Sinn ergibt. Jeder Block wird damit zu einem Gewebe, dessen Fäden deutlich erkennbar werden müssen, jedes Gewebe zur Addition deutlich sichtbarer Detailelemente, die trotz ihrer Selbständigkeit ohne einander nicht existieren können. Klares Zeichen dieses Strukturalismus ist zum andern auch die Temponahme, die über die lange Spieldauer der Symphoniesätze hinweg halten musste. Dies bedeutete Relation der Tempi untereinander, wie sie beispielsweise zu Mozarts Zeiten bestand, eindeutig die Betonung des Vielfachen von Zwei, was ja Bruckner in den italienischen Vortragsbezeichnungen der Fünften Symphonie auch indirekt bestätigte. Zweifellos fiel auch eine neue, nahezu eigenqualitative Dimension des Scherzo auf. Die Scherzi werden in der strukturellen Sichtweise Abreaktionsstellen in Richtung explosiver Orchesterdynamik, eine Art organisierter Rhythmuslärm, dessen Qualität in dem Verhältnis von kurzen und langen Notenwerten und ihren Betonungen beruht. Auch hier gab Karajan in seinen späten Interpretationen die Richtung vor. Gerade er, der den Klang bis zum Exzess kultiviert hatte, zog plötzlich in eine andere Richtung. Struktur hieß bei ihm dann Notenbild und sonst gar nichts, deswegen riskierte er Handicaps, die in den letzten Sätzen so überreich vorhanden sind, und deswegen kam er zu einer Nuancenbetonung, die vielen Zuhörern als zu eckig, schroff und harsch erschien. Auf gleichen Wegen wandelten Dirigenten wie Claudio Abbado, Lorin Maazel, Giuseppe Sinopoli und gelegentlich auch Sir Georg Solti, der auf die dynamische Konfrontation baute. Auch Barenboim folgt seit einiger Zeit dieser Richtung, wobei er prononciert auf den spirituellen Gehalt von Bruckners Musik, der in der Wiedergabe nicht verloren gehen sollte, hingewiesen hat. Dirigenten wie Michael Gielen oder Pierre Boulez wurden oft als Analytiker bezeichnet, bei denen die korrekte Tonwerdung der Partitur, ebenso die Befolgung aller ihrer Bezeichnungen und Vorschriften an erster Stelle steht. Die Einspielungen des bis dahin international relativ unbekannten Dirigenten Günter Wand mit dem NDR-Symphonie Orchester zehren von diesem strukturellen Duktus. Grundsätzlich pflegte auch Nikolaus Harnoncourt einen analytischen Zugang zu Bruckners Symphonien. Er setzte sich intensiv mit den Originalquellen auseinander und folgte in der Ausführung meist sehr genau den Vorgaben Bruckners. Allerdings verstand er „Werktreue“ als „Sinntreue“(Revers, S. 198, 208) und erlaubte sich daher „rhetorisch begründete Freiräume“ (Revers, S. 208), z. B. in der Tempodisposition.

Abgesehen von jenen Dirigenten, die ihre individuelle Interpretationsschicht auf starke Kontraste bauten, wie George Andreas Szell, Maazel, Solti oder Giulini, trat dieser Interpretationseffekt bei allen Orchesterleitern ein, die sich mit den ersten Fassungen der Bruckner‘schen Symphonien beschäftigten. Die Erstfassungen wurden erst in den 1970er und 1980er Jahren eingespielt. Als deutlichster Zeuge dafür steht Eliahu Inbal, der die Erstfassungen mit dem Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt auf Platte bannte, ebenso Jukka-Pekka Sarastre und jene jüngere, weniger bekannte italienische, israelische und amerikanische Dirigentengeneration, die sich aus Studien- oder anderen Gründen mit den Erstfassungen auseinandersetzte. Dies trifft auch auf die Verfechter einer Finalfertigstellung der Neunten Symphonie zu, die nunmehr in über 20 Fassungen vorliegt und – abgesehen von der Unmöglichkeit ihrer wissenschaftlich haltbaren Realisierung – zumindest dem Kontrastaspekt weiter Vorschub leistete.

Grundsätzlich lässt sich ein Urteil über die Dirigenten- und Orchesterleistung bei einem großen symphonischen Werk nicht anhand von hervorstechenden Einzelheiten fällen, denn nur das Ganze in seiner Vollendung und Geschlossenheit lässt eine Bewertung zu. Fragwürdige Vergleichsexperimente, wie sie gelegentlich durch Zeitmessungen von Symphonien-Wiedergaben oder auch bloß von einzelnen Sätzen durchgeführt werden, können zu keinen brauchbaren Resultaten führen. Interpretatorische Verschiedenheiten haben oft mit der Individualität und dem Nimbus der Dirigenten zu tun. Unwillkürlich verbindet dadurch der Hörer den speziellen Duktus der Wiedergabe mit der Persönlichkeit des Dirigenten, die – etwa bei Furtwängler oder Otto Klemperer – mit deren musikgeschichtlicher Bedeutung in Relevanz gebracht werden kann. Interessant ist die Beobachtung, dass gerade jene Künstler, denen eine allzu freie und persönliche Art der Darstellung zugeschrieben wird, dieses Vorurteil durch eine absolut korrekte Wiedergabe entkräften. Hervorragendes Beispiel dafür sind die Aufnahmen der Bruckner-Symphonien unter der Leitung Furtwänglers. Dieser Dirigent, dem oft unzeitgemäßer romantischer Überschwang nachgesagt wird, erweist sich auf diesem Feld als strenger Analytiker moderner Prägung, als strikter Befolger dynamischer und sonstiger Vorgaben. Bei Klemperers Wiedergaben fällt – nicht nur bei Bruckner – auf, dass er den Bläserstimmen eine größere Hervorhebung zuweist als dies bei den meist Streicher-betonten Wiedergaben üblich ist. Der ungewohnte Akzent, der sich dadurch in das Klangbild einfügt, hat nur mit einer Balance-Verlagerung, nicht aber mit einer Abweichung von der Partitur zu tun. Bei Celibidache, der v. a. in München als der große Bruckner-Dirigent seiner Zeit gefeiert wurde, war der Hang zum Monumentalen, zum Mystischen, zur Betonung der großen Steigerungen wie auch der überweiten Ausdehnung der pathetischen Stellen bemerkbar – wogegen Bruckner wahrscheinlich kaum Einspruch erhoben hätte. Dagegen hielt Wand, der erst spät Anerkennung erfuhr und zuletzt von vielen Beurteilern als exemplarischer Bruckner-Dirigent angesehen wurde, an einer betont maßvollen Wiedergabe fest.

Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Bewertung von Bruckner-Wiedergaben spielt das jeweilige Klangbild des Orchesters. Eine Vierte Bruckners mit dem Cleveland-Orchestra unter Szell klingt anders als eine Interpretation desselben Stücks mit den Berliner Philharmonikern unter Karajan oder mit dem Koninklijk Concertgebouworkest unter Haitink. Nicht zuletzt sind es diese individuellen Eigenheiten der Orchester, die auf die Beurteilung der künstlerischen Leistung Einfluss nehmen. Aber auch hier sei Vorsicht geboten, sogenannte regional-typische Klischees – etwa über italienische, französische, amerikanische, britische Orchester oder Dirigenten – unbedacht anzuwenden.

Jenes Orchester, das von Bruckner dazu ausersehen war, seine symphonischen Werke aufzuführen, die Wiener Philharmoniker, besitzt den Vorzug, den klanglichen Vorstellungen des Komponisten am vollkommensten zu entsprechen. Dieses Klangbild war für Bruckner auch mit der Akustik des „Goldenen Saales“ des Musikvereinsgebäudes verbunden. Der warme und zugleich volle Klang der nach Wiener Bauweise verfertigten Blasinstrumente sowie der expressive Ton der Streicher verleihen den Wiener Philharmonikern eine unbezweifelbare Individualität und zugleich die Position des von Bruckner auserwählten Interpreten. Die Wiener Philharmoniker, die sich nur zögernd mit Bruckner anfreunden konnten, trugen später mit ihren Auslandsgastspielen sehr viel dazu bei, dass Bruckners Musik international bekannt wurde. Ob Bruckner einzig und allein von den Wiener Philharmonikern richtig musiziert wird, muss allerdings in Frage gestellt werden. Denn auch die Wiener Symphoniker haben sich bis heute unter Leitung herausragender Dirigenten (u. a. Fabio Luisi) als lebendige Kraftquelle der Bruckner-Interpretation bewährt.

Es gibt keine gültige Formel für die Art und Weise der Wiedergabe von Bruckners Werken. Oft stellte sich heraus, dass weniger berühmte Dirigenten und Orchester Bruckner treffender interpretierten als ihre populären Pendants. Beispielsweise fanden die Aufzeichnungen der Bruckner-Konzerte in der Basilika Weingarten mit der Württembergischen Philharmonie Reuttlingen unter Roberto Paternostro ebenso viel Anerkennung in Kreisen der Bruckner-Freunde wie jene von Rémy Ballot mit dem OÖ Jugendsinfonieorchester oder dem Altomonte Orchester bei den St. Florianer Bruckner-Tagen (Brucknerfeste und –feiern) oder von Gerd Schaller mit der Philharmonie Festiva beim Ebracher Musiksommer. Ob nun gefeierte Persönlichkeiten oder noch unbekannte Dirigenten Bruckner-Werke leiten bzw. ob es sich um „mystische“, „spirituelle“, „analytische“, „romantische“ oder „anti-romantische“ Darstellungen handelt, ist im Grunde nicht maßgeblich.

Literatur

CLEMENS HÖSLINGER, MANFRED WAGNER

Interpretation von Bruckners Kirchenmusikwerken

Prinzipiell läßt sich das hier über die Interpretation der Bruckner‘schen Symphonien Gesagte auch auf die beiden großen orchesterbegleiteten Messen, die Messe in d-Moll und die Messe in f-Moll, sowie auf das Te Deum und den Psalm 150 anwenden: Bevorzugte die ältere Dirigentengeneration noch einen opulenten, wagner‘schen Orchesterklang, so wurden die späteren Interpretationen zunehmend transparenter und struktureller.

Jedoch stellte sich schon zu Lebzeiten Bruckners auch eine andere die Interpretation betreffende, noch viel grundsätzlichere Frage: Handelt es sich bei den großen Kirchenwerken noch um liturgische Gebrauchsmusik oder wurden sie nicht vielmehr für den Konzertsaal geschrieben? Schon der Uraufführung der Messe in d-Moll im Alten Dom in Linz am 20.11.1864 folgte eine weitere Aufführung im Rahmen eines „Concert spirituel“ im Redoutensaal am 18. Dezember desselben Jahres. Franz Gamon stellte in der letzten Folge seiner Besprechung in der Linzer Zeitung vom 29.12.1864 fest, Bruckner habe mit diesem Werk „nicht nur mit großer Meisterschaft die höchsten Aufgaben der Tonkunst gelöst, sondern auch […] seine Begabung für den höheren Styl, die Symfonie bewiesen.“ (S. 1235). Ähnlich wurde Bruckners Messe in f-Moll aufgenommen: Der Rezensent „e. sp.“ konstatierte in der [Wiener] Morgen-Post vom 19.6.1872 über das Werk, dieses „dürfte weniger einer Kirchen-Messe als einer Konzert-Messe entsprechen“ (S. 3). Für diese Einschätzungen sind immerhin noch musikalische Kriterien (die Dominanz des orchestralen Elementes, die Länge der einzelnen Sätze) maßgeblich.
Mit dem Tod seines Gönners Hofkapellmeister Johann Herbeck am 28.10.1877 und der Nachbesetzung von dessen Stelle in der Wiener Hofmusikkapelle mit Joseph Hellmesberger verlor Bruckner deutlich an Geltung; er wurde zunehmend weniger und ab 1886 in der Wiener Hofburgkapelle gar nicht mehr aufgeführt, was gewiß mit seinem als insistent und aufdringlich empfundenen Verhalten im Zusammenhang mit der Verleihung des Franz Joseph-Ordens und einer respektablen Gehaltszulage (vgl. Hofmusikkapelle, S. 16) stand.
So versuchte der Wiener Akademische Wagner-Verein in die entstandene Lücke einzutreten und brachte in den folgenden Jahren in seinen „internen Abenden“ einzelne Sätze aus der Messe in f-Moll am Klavier (Klavierbearbeitungen) zu Gehör, die im Rahmen der zeitüblichen gemischten Programme vollends aus dem liturgischen Zusammenhang gerissen wurden. Aus den Sätzen der Messe wurden Konzert-Piecen, die ungeschützt ins Visier ideologischer, von Vorurteilen und Klischees geprägter Auseinandersetzung gerieten. So fand etwa Max Kalbeck in der Montags-Revue vom 19.11.1894, „die Abonnenten der Gesellschaftsconcerte sind ja nicht lauter erlösungsbedürftige, reuige, arme Schächer, […] die bei Bruckner Buße thun wollten“ und man habe weder „dem Werke noch seinem Meister […] durch diese Profanation ein[en] besondere[n] Gefallen erwiesen.“ (S. 1). Auch Eduard Hanslick empfand die Aufführung der Bruckner‘schen Messen im Konzertsaal als fehl am Platz und gleichzeitig eine solche in der Kirche als zumindest ebenfalls problematisch, da sie „die ganze Aufmerksamkeit der Gläubigen auf sich concentriren und so die Absichten der Kirche durchkreuzen“ würde (Neue Freie Presse 13.11.1894, S. 1f.). Schon aus diesen wenigen Zitaten geht klar hervor, dass, ebenso wie die Beurteilung der Interpretation der Symphonien auch diejenige der beiden großen orchesterbegleiteten Messen jeweils von persönlichen (manchmal vorgefaßten) Standpunkten – wenngleich anderer Natur ‒ aus geschah. Davon fast immer ausgenommen waren die Messe in e-Moll und die als Einlagestücke im liturgischen Gebrauch gut verankerten Motetten. Auch bei diesen Kirchenwerken zeichnet sich jedoch insgesamt die oben erwähnte Entwicklung hin zu einem transparenteren Klangideal ab, wie es etwa in den neueren Aufnahmen von Chören des englischen Sprachraums – z. B. des Choir of St. Bride’s Church unter Robert Jones (* ?) (Bruckner. Motets [Naxos 8.550956] 1994) und der Corydon Singers unter Matthew Best (* 1957) (mehrere CDs mit Einspielungen der drei großen Messen, des Requiem in d-Moll [WAB 39], des Te Deum, der Motetten und Psalmen aus den 1980er und 1990er Jahren erschienen bei Hyperion) – zu hören ist.

Literatur

ELISABETH MAIER

Zuletzt inhaltlich bearbeitet: 8.1.2019

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